"Keine Angst", 10. März, 20.15 Uhr im Ersten
Kaum eine Regisseurin kennt lebensfeindliche Milieus so gut wie Aelrun Goette. Mit "Keine Angst" hat sie ihren Erzählungen über bedrückende Kindheitsentwürfe ein weiteres herausragendes Werk hinzugefügt. Der Titel ist allerdings der pure Euphemismus, denn die Angst ist allgegenwärtig in dieser Geschichte von Martina Mouchot; wenn auch weniger auf Seiten der Hauptfigur. Als Zuschauer aber schaut man sich den Film in ständiger Sorge um Becky an. Die 14-Jährige ist so etwas wie ein Engel der Barmherzigkeit inmitten eines Milieus, in dem Menschlichkeit leicht als Schwäche ausgelegt werden kann: Das Mädchen lebt in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Während die Mutter ihr Dasein auf Fernsehen und Alkohol reduziert, kümmert sich Becky hingebungsvoll um ihre kleinen Geschwister. Als sie sich schüchtern in Bente verliebt, erlebt sie zwar ein kleines Glück, doch aus Sicht des Zuschauers vergrößert sich nun erst recht die Fallhöhe. Ausgerechnet an Beckys Geburtstag ereignet sich, was man die ganze Zeit befürchtet.
Oasen des Friedens
Kein Wunder, dass "Keine Angst" mitunter wie eine Dokumentation des Schreckens wirkt. Gleichzeitig sorgt die vielfach ausgezeichnete Regisseurin ("Die Kinder sind tot", "Unter dem Eis") immer wieder für Oasen des Friedens: Becky ist ein auf fast schon überirdische Weise guter Mensch; deshalb schmerzt es auch um so mehr, als ihr Gewalt angetan wird. Natürlich ist so eine Geschichte eine enorme Herausforderung für die Darstellerinnen.
Mit Michelle Barthel und Carolyn Sophia Genzkow
Dass sie ihre Sache grandios machen, ist das Eine; das Andere ist die Frage, wie sie die Dreharbeiten überstanden haben. Aber auch in dieser Hinsicht war dieser Film bei Goette in den besten Händen: Sie ist bekannt dafür, sich geradezu vorbildlich um ihre jungen Schauspieler zu kümmern. Die wiederum danken es ihr mit vorzüglichen Leistungen: Michelle Barthel (als Becky) trägt den Film mit spielerisch anmutender Selbstverständlichkeit; Carolyn Sophia Genzkow (als ihre Freundin Mel) hat erst kürzlich in "Zivilcourage" prächtig mit dem großen Götz George harmoniert. Dritter im Bunde ist Max Hegewald. Aber auch die erwachsenen Schauspieler in den Schlüsselrollen sind bestens besetzt. Dagmar Leesch versieht die Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt, mit gerade eben noch so viel Würde, dass man sie auch als Opfer der Umstände sehen kann. Noch besser gelingt die Gratwanderung Frank Giering als Freund der Mutter, der ein durchaus netter Kerl sein kann; bis er Becky vergewaltigt. Respekt auch vor dem WDR (Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker), der sich mit "Keine Angst" erneut an eines jener brisanten Sozialthemen gewagt hat, die die Heile-Welt-Filme der ARD außerhalb der Sonntagskrimis zumeist geflissentlich aussparen.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und die "Frankfurter Rundschau" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).