Zehn Thesen zum Qualitätsjournalismus im Internet
1) Eine Onlinesite wird niemals so gut wie die Zeitung sein - aber auch nicht so schlecht.
Der Vorteil einer Papierzeitung ist häufig, dass Journalisten mehr Zeit haben. Dass schwierige Recherchen geleistet und brisante investigative Nachrichtenstorys geschrieben werden können. Dass die Expertise gestandener Redakteure in hintergründige Analysen fließt und sprachschöne Reportagen entstehen. Das wird ein aktuelles Informationsportal so nie leisten können. Dafür kann es anderes: Schnell und adäquat auf breaking news reagieren, erste Interviews und Kommentare liefern. Sowie besondere Geschichten aufspüren und ausbreiten – und das mit den Mitteln des Internet, was Ton und Bewegtbild einschließt. Und schließlich erlaubt das Medium eine intensive Kommunikation mit den Lesern.
2) Jedes Medium hat Stärken, die es zu betonen gilt – und eine eigene Qualität.
Statt über strukturelle Veränderungen in der Branche zu jammern, über den angeblichen Niedergang von Print und die Verflachung im Netz, wäre es angezeigt, dass sich jedes Medium auf seinem Kanal stark macht – und die unterschiedlichen Publika überzeugt. Das bedeutet im Fall Print etwas anderes als im Fall Internet. Es ist ein Irrglaube, per se einfach jeden Zeitungsartikel zu einem Onlineartikel machen zu wollen. Das ist nur in einigen Formen, wie zum Beispiel pointierten Kommentaren, erfolgreich.
3) Journalistische Standards gelten unabhängig vom Medium und sichern Qualität.
Eine ganz andere Sache ist, dass bestimmte journalistische Normen unabhängig vom Medium gelten müssen. Das sind eherne Grundsätze der Branchen. Zum Beispiel, dass es für jede exklusive Information zwei Quellen geben muss oder dass Texte gegengelesen und vom Schlussredakteur abgenommen werden. Oder dass Betroffene und Beschuldigte gehört werden und die Würde des Menschen zu achten ist.
4) Quote ist Gefahr, aber auch Gewähr für gute Themen-Präsentation.
Im Internet ist die Erfolgsstatistik sofort verfügbar. Ob ein Text akzeptiert wird und Lesefreude auslöst, ist transparent. Das könnte zur Maximierung der Klicks verführen, darf es aber nicht. Verantwortungsvolles Publizieren im Onlinejournalismus heißt, eine Mischung zwischen Publikumshits und relevanten Stoffen zu erreichen, zwischen Staatsbürgerkunde, Nutzwert und Entertainment. Vielfach signalisiert eine schlechte Akzeptanz aber auch, dass sich Journalisten noch mehr Mühe geben müssen beim Formulieren von Überschriften und Vorspännen.
5) Die beste Qualitätskontrolle ist eine enge, stetige, nachhaltige Zusammenarbeit zwischen Print und Online.
Fruchtbar ist die nachhaltige, permanente Debatte in der Redaktion zwischen Onlinejournalisten und Printredakteuren. Das hilft bei der Einordnung von Themen, dem Erkennen aktueller Stoffe und dem Vermeiden von Fehlern.
6) Ohne Internet ginge es den Zeitungen nicht besser, mit Internet geht es ihnen nicht schlechter.
Die Überschneidungen zwischen den Publika der Zeitungen und ihrer Onlineportale sind durchweg gering. Im Internet sprechen die Journalisten ein jüngeres Publikum an, das den Abschluss eines Abonnements nicht mehr als selbstverständlich ansieht, sondern von der Qualität überzeugt werden will. Gute, leistungsstarke Zeitungen haben in der Regel auch einen guten, leistungsstarken Onlineauftritt. Er darf sich nicht im Duplizieren der Zeitungskultur beschränken, sondern muss eigenständige Akzente setzen. So wird die Marke – das publizistische Dach der Anstrengungen – von zwei Seiten gestärkt.
7) Online bieten sich neue Qualitätsdimensionen.
Eine verunglückte Günther-Oettinger-Rede auf Englisch lässt sich nun einmal im Internet ganz anders dokumentieren, mit dem dazugehörigen Video und dem Originalton. Themen lassen sich sinnlich im Netz aufbereiten. Es kann ein anderes Erkenntnisniveau erreicht werden. Auch die Aufbereitung einzelner Artikel zu kleinen Specials oder die Verknüpfung zu verwandten Themen sorgen für eine bessere Information.
8) Wenn die Papierzeitung Literatur für den Tag ist, dann ist die Onlinezeitung ein Notizbuch für den Tag.
Die Kunst von Journalisten, alltägliche, besondere oder auch profane Vorkommnisse in Texte zu fassen, macht ihre Bedeutung, gelegentlich auch ihren Ruhm aus. Sie finden Bilder und Metaphern und Analogien. Das gelingt, auf jeweils andere Art, sowohl im gedruckten als auch im elektronischen Medium.
9) Das Internet löst Probleme der Zeit und des Raums, unter denen Zeitungen leiden.
Das Dilemma einer Internetzeitung ist, dass sie viel weniger Themen sichtbar halten kann als das Papiermedium Zeitung. Internet ist ein vertikales Medium, bei dem man sich von Ebene zu Ebene durchklicken kann. Alles ist gespeichert und verfügbar, auch der Artikel von vor zwei Jahren. Es ist die Kunst der Navigation, den User durch die Onlinesite zu führen und für weitere Angebote zu interessieren. Die Produktionsbedingungen erlauben es, einen Artikel kurz oder lang zu gestalten oder ihn je nach Lage zu verändern. In der Papierzeitung hingegen stößt der Redakteur überall an Grenzen. Das Papier bestimmt das Volumen, das Layout die Länge. Das kann unfrei machen.
10) Qualität kostet, auch im Netz. Sie gibt es nicht kostenlos.
Hinter jedem qualitativ guten Text steht eine hart arbeitende Redaktion. Recherche und Reflexion, die höchsten Güter des Journalismus, gibt es nicht gratis. Deswegen wird es neben der Werbung andere Finanzierungsformen geben müssen. Den Bürgern sollte Artikel fünf etwas wert sein.
Hans-Jürgen Jakobs (geb. 1956) ist Chefredakteur von sueddeutsche.de. Zuvor leitete er von 2001 bis 2006 das Medienressort der "Süddeutschen Zeitung".
Link: Evangelische Akademie Tutzing
Weitere geplante Beiträge in der Reihe "Journalismus im Netz":
Dienstag: "Für Integration sorgen" von Volker Lilienthal (Universität Hamburg)
Mittwoch: "Der Charme der Reichweite" von Volker Herres (ARD-Programmdirektor)
Donnerstag: "Mehrwert für Nutzer" von Vera Lisakowski (Grimme Online Award)
Freitag: "Fit für die Zukunft" von Ulrich Brenner (Leiter Deutsche Journalistenschule)