"Polizeiruf 110: Der scharlachrote Engel", 5. März, 22.15 Uhr im Ersten
Der späte Sendetermin ist natürlich dem Vorprogramm geschuldet, hat aber durchaus seine Berechtigung: Dominik Graf zeigt in seinem Film eine Vergewaltigung in all ihrer Brutalität. Das müsse möglich sein, fordert der Regisseur, der ohne Frage über jeden Verdacht erhaben ist, an niedere Instinkte zu appellieren: "Wir dürfen uns doch nicht daran gewöhnen lassen, nur noch schwache Schatten der Magma-artigen Verwüstungsspuren zu zeigen, die die Gewalt im Leben anrichten kann".
Mit Nina Kunzendorf
Graf, unter den deutschen Regisseuren einer der renommiertesten und vielfach ausgezeichnet, hat ein Motiv; sein Film ist Thesenfernsehen. Natürlich sind Graf und sein langjähriger Autor Günter Schütter so klug, ihr Anliegen in eine durchaus fesselnde Krimi-Handlung zu packen: Die junge Flo (Nina Kunzendorf) finanziert ihr Studium als "Webcam-Girl" durch Strip-Tänze im Internet. Eines Tages will ein Kunde, dass sie das vermeintliche Versprechen auch in die Tat umsetzt, und nimmt sich mit Gewalt, was ihm seiner Meinung nach zusteht. Prompt baut seine Verteidigerin ihre Strategie darauf auf, ihr Mandant habe zwischen Schein und Sein nicht mehr unterscheiden können.
Visuell-intellektuelle Analphabeten
Genau dies ist Grafs These: "Dass wir verlernt haben und immer weiter verlernen zu sehen". Er spricht gar von einer Bildungskatastrophe: "Die Bundesrepublik ist eine Gesellschaft von visuell-intellektuellen Analphabeten geworden". Der Vergewaltiger wäre demnach der Repräsentant einer neuen Generation, die nicht mehr in der Lage ist, zwischen Virtualität und Realität zu differenzieren. Allerdings ist der von Martin Feifel verkörperte Mann keineswegs ein derart tumber Tor, wie man vermuten sollte. Auch Kommissar Tauber (Edgar Selge) erliegt übrigens alsbald den Reizen der schönen Tänzerin, die ihn zu ihrem persönlichen Beschützer macht.
Die Figur Tauber mit neuen Facetten
Graf ist ein ungewöhnlicher Beitrag zu ARD-Reihe gelungen, der unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Sehenswert ist der "Scharlachrote Engel" schon allein wegen der Bildgestaltung von Alexander Fischerkoesen. Für die Fans von Tauber und Kollegin Obermaier (Michaela May) ist der Film allerdings gewöhnungsbedürftig, selbst wenn es Graf gelungen ist, der faszinierenden Figur Taubers reizvolle neue Facetten abzugewinnen: Obermaier passt diesmal nicht recht in die Geschichte, zumal es zwischen Tauber und Flo zu einer zwar platonischen, aber doch eindeutig erotisch aufgeladenen Beziehung kommt. Immerhin hat May den besten Dialogsatz: Tauber, der auch dann grimmig dreinzublicken pflegt, wenn er nicht die Nächte durcharbeitet, schaue wieder mal drein, als habe er "zu lang am Kreuz gehangen".
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und die "Frankfurter Rundschau" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).