Frage: Frau Käßmann, mit Abschieden tun wir uns in der Regel schwer. Warum?
Margot Käßmann: Weil immer ein Trauerprozess mit ihnen verbunden ist. Etwas ist endgültig vergangen. Das beginnt schon bei banalen Abschieden. Ich habe letztes Jahr meinen Keller entrümpelt und damit auch Dinge, mit denen Erinnerungen verbunden sind. Gerade wer älter wird, merkt: Manches ist unwiederbringlich.
Frage: Welche Abschiede waren für Sie persönlich bedeutsam?
Käßmann: Ganz bewusst erlebt habe ich einen Neuanfang, der gleichzeitig ein Abschied war. Ich war schwanger mit Zwillingen, unsere älteste Tochter drei Jahre alt. Wir zogen in ein Pfarrhaus in der Nähe von Schwalmstadt in Nordhessen. Da habe ich plötzlich gespürt: Das ist der endgültige Abschied vom Jugendleben und vom Jung-Sein. Jetzt bist du richtig erwachsen. Das waren natürlich gemischte Gefühle, weil es gleichzeitig ein Abschied von Freiheiten bedeutete.
Frage: Und später?
Käßmann: Als meine Töchter ausgezogen sind, dachte ich, das wird nie wieder so sein: Dieses Familienleben mit vier Kindern um den Tisch – und sie bringen noch drei Freunde mit. Ich habe mir dann gesagt: Natürlich müssen sie gehen, aber das ist auch schön. Ich habe jetzt zum Beispiel mehr Zeit für mich und für meine Arbeit. In solchen Situationen ist es wichtig, sich einzugestehen, dass der Abschied wehtut, und den Schmerz zuzulassen. Dann kannst du eine Haltung finden, die sagt: Ich geh aufrecht zu etwas Neuem.
Frage: Es gibt aber viele, die das so nicht schaffen …
Käßmann: Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft den Schmerz lieber überspringt. Wenn unser Leben auf dem Prüfstand steht, wenn es erschüttert ist, wir verletzbar sind oder dünnhäutig, lenken wir uns gerne ab. Einer macht Sport, die nächste guckt fern, der dritte geht einkaufen. Darin steckt der Versuch, dem Schmerz zu entgehen oder ihn nicht zuzulassen. Aber das ist ja das Großartige am christlichen Glauben. Jesus sagt: "Euer Herz erschrecke nicht". Wir können eben hinsehen, weil unser Glaube das Leben nicht idealisiert. Abschiede können uns reifer machen.
Frage: Haben Sie das selbst so erlebt...?
Käßmann: Die letzten Jahre waren für mich nicht wirklich einfach, aber von der Tiefe des Lebens erfährt der Mensch viel mehr durch die Abschiede als durch Erfolge oder Gleichklang. Meine Krebserkrankung etwa bedeutete den Abschied von der Illusion, dass ein Mensch sich immer gesund halten kann. Solche Abschiede geben oftmals große Kraft und Lebenstiefe.
Frage: Und wie kann man an das Tabuthema Tod bewusst herangehen?
Käßmann: Die Kirche hat dafür gute Rituale. Als sich Nationaltorhüter Robert Enke das Leben genommen hatte, wurde ein Schweigemarsch geplant. Ich wollte zunächst keine Trauerfeier halten. Aber mir haben dann Väter gemailt: Wir können doch nicht nur einen Schweigemarsch mit unseren fußballbegeisterten Söhnen machen, da muss doch noch mehr kommen. Ich habe mich dann umentschieden, es gab eine Trauerfeier. Wir hatten 95 Prozent Männer in der und um die Kirche. Es war sehr bewegend: miteinander das Vaterunser beten, Kerzen anzünden. Solche Rituale geben Halt in Situationen, die wir sonst kaum bewältigen können. Für die wir keine eigenen Worte finden, aber alte Worte kennen.
Frage: Was sagen Sie zu der Entwicklung, dass immer mehr Bestattungs- und Trauerrituale außerhalb der Kirche angeboten werden?
Käßmann: Wir sollten um die Rituale ringen. Als Kirche haben wir auf dem Gebiet große Stärken, weil wir eine weitergehende Botschaft haben. Unser Angebot ist konkurrenzlos, weil es vom Leben nach dem Tod spricht. Unsere Rituale sind tragend, unsere Hoffnung ist eine ganz andere als dieses "wird schon werden". Natürlich dürfen wir den Tod nicht banalisieren, denn er ist grausam und schmerzhaft. Aber der Glaube wird trotzdem immer dagegenhalten und sagen: Wir glauben nicht an einen Toten, sondern an den Auferstandenen. Ohne kirchliche Rituale sehe ich eine zunehmende Anonymisierung, weil es oft keinen wirklichen Abschied gibt – am Grab oder durch Beileidsbekundungen. Die Menschen drücken sich um den Trauerprozess und auch den Abschied, indem sie zum Beispiel die Asche eines Toten einfach verstreuen lassen. Das finde ich extrem traurig.
Frage: Sie haben herbe Kritik erfahren auf Ihren Vorschlag, die Kirche sollte auch für Paare in Trennung oder Scheidung Rituale anbieten.
Käßmann: Damals wurde geschrieben: Käßmann will Scheidung segnen. Aber das war nie der Punkt. Eine Scheidung ist eine Erschütterung. Man verabschiedet sich von einem Menschen, aber auch von einem Lebensentwurf. Wenn Paare in Frieden auseinandergehen, gehen sie nach dem Gang zum Amtsgericht manchmal gemeinsam essen. Die Menschen schaffen sich so ihr eigenes Ritual. Ich empfehle als kirchliches Ritual zum Beispiel das gemeinsame Abendmahl. Es ist ein Zeichen, durch das Menschen sagen: Wir trennen uns. Aber das, was wir geteilt haben, bleibt wertvoll, da gibt es auch Frieden. Wer im Schmerz oder im Zorn auseinandergeht, kann das so nicht sehen.
Frage: Müssen wir uns manchmal auch von Gottesbildern verabschieden?
Käßmann: Das ist das Wagnis des Glaubens: dass wir immer wieder Gott neu denken. Ich jogge jeden Donnerstag mit einer befreundeten Internistin und hab neulich gesagt: "Die Ewige hat da auf mich aufgepasst." Und da sagt sie: "Hör auf mit dem Feministinnenkram! Es heißt doch DER Gott. DER Ewige!" Da haben wir dann fünf Kilometer lang heftig diskutiert. Das find ich grad spannend, dass wir immer wieder neu nachdenken müssen. Wir werden nie zum Ende kommen in Glaubensfragen.
Frage: Und was ist mit denen, die ihren Glauben verloren haben?
Käßmann: Wer auf der Suche ist, befindet sich meiner Erfahrung nach längst im Gespräch mit Gott. Ein Mensch dagegen, der sagt: "ich glaube und hab gar keinen Zweifel", lässt nicht viel Fragen zu. Das ist eher eine ängstliche Abgrenzung. Die ist aber nicht sehr lebensfroh und lebensbejahend.
Frage: Gibt es Dinge, von denen wir uns als Kirche verabschieden müssen?
Käßmann: Manche Gemeinden erleben zurzeit schmerzhafte Abschiede, wenn sie ihren Pfarrer nicht mehr für sich alleine haben. Das ist gleichzeitig ein Abschied von einem Gemeindebild: ein Pfarrer, ein Dorf, eine Kirche. Auch Abschiede von Kirchengebäuden sind schwere Trauerprozesse, bei denen Menschen oftmals weinen. Und natürlich sind da die Abschiede von Idealbildern wie dem evangelischen Pfarrhaus mit Pfarrfrau und vielen Kindern.
Frage: Ist damit auch ein Abschied von der Volkskirche verbunden?
Käßmann: Den sehe ich nicht. Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sind Mitglied in einer der Kirchen. Wir haben neben den bedauerlichen Austritten jährlich auch 60.000 Eintritte in die evangelische Kirche und davon sind 30.000 Wiedereintritte. Und diejenigen, die die Kirche verlassen, verlassen sie oft mit ganz hohen Emotionen. Mit Zorn, mit Wut, mit Trauer, mit Schmerz. Ich erlebe, dass es eine tiefe Sehnsucht nach Verwurzelung und Beheimatung gibt. Doch auch, wenn die Volkskirche kleiner wird, kann sie Kirche für das Volk sein. Wären wir keine relevante Größe, würden sich Politiker nicht so aufregen, wenn wir ihre Entscheidungen öffentlich kritisieren.
Das Interview ist erschienen in der aktuellen Ausgabe von ECHT, dem Mitgliedermagazin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Das Interview wurde bereits vor dem Rücktritt von Margot Käßmann geführt.