Jahrhundertbeben stürzt Chile in Chaos und Verzweiflung
Das schwere Erdbeben in Chile hat rund zwei Millionen Menschen getroffen. Viele Menschen haben alles verloren, nicht nur durch die Erdstöße, auch durch Flutwellen. Hunderte gelten noch als vermisst.

Das schwerste Erdbeben seit fünfzig Jahren hat Teile Chiles zerstört und mehrere hundert Menschen in den Tod gerissen. Die massiven Erdstöße erreichten die Stärke 8,8 und gehörten damit zu den stärksten je gemessenen Beben. Für nahezu die gesamte Pazifik-Region wurde Tsunami-Alarm gegeben, die Wassermassen trafen die chilenische Küste und richteten zusätzliche große Zerstörungen an. In Hawaii, Japan und Russland blieben die befürchteten Riesenwellen aber aus.

Die Zahl der Toten des Erdbebens stieg am Sonntag auf fast 400. Seit dem Beben am frühen Samstagmorgen (Ortszeit) seien 392 Tote gefunden worden, berichteten chilenische Medien unter Berufung auf Informationen aus dem Zentrum für Katastrophenschutz. Zuvor hatte die Leiterin Carmen Fernández noch von etwas mehr als 300 Toten gesprochen. Es wurde befürchtet, dass sich die Zahl der Opfer in den nächsten Tagen noch erhöhen wird.

Der gewählte Präsident Sebastián Piñera, der sein Amt am 11. März übernimmt, kündigte einen nationalen Plan "Wiederaufbau Chile" an. Das Ausmaß der Katastrophe werde frühestens in drei Tagen feststehen, sagte Fernández. Die Lage in dem immer wieder von Erdbeben heimgesuchten südamerikanischen Land war von zunehmender Verzweiflung und von Chaos geprägt. Die stark beschädigte Infrastruktur erschwerte die Hilfsbemühungen.

Zwei Millionen Menschen betroffen

Vor allem in den am stärksten betroffenen Regionen von Maule und Bío Bío galten zahlreiche Menschen noch als verschollen. Die genaue Zahl der Obdachlosen war zunächst unbekannt. Chiles Präsidentin Michelle Bachelet hatte am Vortag von 1,5 Millionen zerstörten oder beschädigten Wohnungen gesprochen. Die Politikerin versuchte, ihren geplagten Landsleuten Mut zu machen: "Wie bei früheren Katastrophen werden wir auch diese Probe bestehen", sagte sie bei einer Fernsehansprache. Nach ihren Angaben waren zwei Millionen Menschen direkt von dem Beben betroffen. Über deutsche Opfer lagen dem Auswärtigen Amt in Berlin keine Informationen vor.

In der besonders betroffenen Stadt Concepción lieferten sich die Rettungsmannschaften einen Wettlauf mit der Zeit. Dort war bei dem Beben ein Wohnhaus mit 14 Stockwerken in zwei Teile zerbrochen. Nach einem Bericht der Zeitung "La Tercera" wurden bis zum späten Abend etwa 30 Menschen lebend aus den Trümmern befreit, 60 Menschen seien noch in dem Komplex gefangen, der jederzeit einstürzen könnte. Das Epizentrum des Bebens lag nach Angaben der US-Erdbebenwarte etwa 92 Kilometer nordwestlich von Concepción. Die mächtigen Erdstöße am Samstag um 3.34 Uhr Ortszeit hatten die Menschen im Schlaf überrascht.

Fernández versicherte, es werde alles unternommen, um die Lage der Menschen zu erleichtern. Vielerorts gab es weder Wasser noch Gas oder Strom. Die Telefonverbindungen über das Festnetz und über Handy-Netze waren entweder unterbrochen oder stark überlastet. Der erheblich beschädigte internationale Flughafen von Santiago blieb geschlossen. Allerdings seien beide Landebahnen soweit intakt.

Menschen warten auf Hilfe

Die Sicherheitskräfte waren zunächst völlig überfordert. In Concepción plünderten hunderte Menschen einen Supermarkt. "Wir haben keine Milch, nichts für die Kinder", jammerte eine weinende Frau, während sie vor der aufgebrochenen Laderampe eines Supermarktes ein Zehnerpaket H-Milch umklammerte. Die erst spät eintreffenden Sicherheitskräfte bekamen die Lage nicht in den Griff. "Die Situation war von Anfang an völlig chaotisch. Wir tun, was wir können", sagte der Polizist Jorge Córdova der Deutschen Presse-Agentur dpa.

Auch aus anderen Ortschaften in den von dem Beben und der folgenden Flutwelle schwer zerstörten Regionen Bío Bío und Maule klagten die Menschen über ausbleibende Hilfen. Fast alle Geschäfte in der Katastrophenregion etwa 500 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago waren geschlossen. Andere boten ihre Produkte zu stark überhöhten Preisen an.

Ein Erdbeben der Stärke 8,8 gilt als Großbeben. Damit war das Beben nach Einschätzung von Experten bis zu hundertmal heftiger als die Erdstöße der Stärke 7,0, die am 12. Januar Haiti erschüttert hatten. Das heftigste je auf der Erde gemessene Beben hatte eine Stärke von 9,5 und ereignete sich 1960 ebenfalls in Chile. Damals starben 1655 Menschen.

Wassermassen treffen chilenische Küste

Während die befürchteten Riesenwellen über den Pazifik ausblieben, verschlimmerten die Wassermassen in Chile das Elend noch weiter. "Es bebte und dann kam das Meer in unser Haus, es reichte uns bis zum Hals", sagte eine Einwohnerin von Iloca im Süden des Landes. In der Stadt Talcahuano wurden selbst größere Schiffe bis ins Stadtzentrum geschwemmt, im Hafen lagen riesige Seecontainer wie Streichhölzer durcheinander.

"Das Wasser hat alles, aber auch alles fortgerissen", sagte ein Überlebender aus dem kleinen Küstenort Boyecura. Die Marine räumte inzwischen ein, dass ihr ein schwerer Fehler unterlaufen sei, weil sie zunächst eine Flutwelle ausgeschlossen hatte. Die meisten Menschen in den Küstenorten hatten sich dennoch rechtzeitig in Sicherheit gebracht.

Auf der chilenischen Insel Robinson Crusoe, rund 670 Kilometer westlich von Südamerika, wurden fast alle Gebäude zerstört. Dort starben mindestens fünf Menschen in den Wassermassen, elf wurden noch vermisst. Das Tsunami-Warnzentrum auf Hawaii hatte alle Warnungen vor Riesenwellen für den pazifischen Raum schon am Samstagabend zurückgenommen. Russland hob am Sonntag den Tsunami-Alarm für seine Pazifikküste ebenfalls auf, für die Küste Japans wurde er herabgestuft. An der japanischen Nordküste wurden bis Sonntagnachmittag (Ortszeit) Flutwellen von 1,45 Metern Höhe beobachtet, wie die Nachrichtenagentur Kyodo meldete.

Mehr als 70 Nachbeben

Nach dem Mega-Beben wurden mehr als 70 Nachbeben mit einer Stärke von mindestens 4,9 registriert, berichtete die US-Geologiebehörde USGS. Auch der Norden Pakistans wurde am Sonntag von einem Erdbeben der Stärke 6,2 erschüttert. In Argentinien hatte die Erde ebenfalls gebebt, die südjapanische Inselprovinz Okinawa war am frühen Samstag von einem Erdbeben der Stärke 6,9 heimgesucht worden - es verlief jedoch glimpflich. Meldungen über Tote oder Schäden gab es zunächst nicht.

Die Europäische Union, die Vereinten Nationen, die USA und mehrere Nachbarländer boten Chile Hilfe an. "Die UN, insbesondere der Nothilfekoordinator, stehen bereit", sagte Generalsekretär Ban Ki Moon in New York. "Wir bieten schnelle Unterstützung, wenn das chilenische Volk und die Regierung das wünschen." Die EU-Kommission gibt drei Millionen Euro als Soforthilfe. Erste Hilfsmannschaften aus Deutschland machten sich auf den Weg ins Katastrophengebiet. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sprach den Opfern sein Mitgefühl aus.

dpa