Wenn Pillen die Leistungsfähigkeit im Job sichern
Arbeitnehmer im Job müssen funktionieren. Da bleibt kein Platz für Überforderung oder Angst. Und falls doch, gibt es da viele kleine Pillen, die über das Gröbste hinweghelfen. Und in die Sucht führen. Wie aber geht eine Gesellschaft, die maximale Leistung fordert, damit um, wenn diese Leistung durch illegale Mittel erzielt wird?
23.02.2010
Von Petra Thorbrietz

Markus arbeitet in einer Bank im Ruhrgebiet. Er ist erst Anfang 30, doch dem Druck am Arbeitsplatz ist er schon längst nicht mehr gewachsen. Markus, dessen Gesicht der WDR-Jugendsender EinsLive geheim hält und dessen richtigen Namen er nicht nennt, nimmt schon seit längerer Zeit Psychopharmaka, um in seinem Job nicht zu versagen. Er ist einer der wenigen, die sich dazu bekennen. Aber er ist einer von vielen, die es tun.

Zwei Millionen der Arbeitnehmer zwischen 20 und 50 Jahren, ermittelte die Deutsche Angestelltenkrankenkasse (DAK), haben schon einmal Medikamente gegen Demenz oder Depressionen geschluckt, um ihr Gehirn auf Höchstleistung zu trimmen. "Doping" nennen das diejenigen, die solche Eingriffe in die Hirnchemie kritisch sehen, "Enhancing", Verbesserung, dagegen jene, die damit kein Problem haben.

Medikamenteneinnahme aus Angst

Denn Drogen gehören zum Alltag. Und wo liegt schon der Unterschied zwischen einer Tasse Kaffee, die den nachmittäglichen Tiefpunkt zu überwinden hilft, einer Aspirin gegen die stressbedingten Nackenschmerzen oder einem Amphetamin, das die Energiedepots wieder auffüllt? Drogen gehören zur Menschheitsgeschichte, und Psychopharmaka sind eben ein Teil der modernen Wissenschaftsgesellschaft, lassen sich vielleicht sogar besser kontrollieren als frühere Rauschmittel, und sie machen den Kopf klar statt ihn zu vernebeln, argumentieren die Befürworter. 800.000 Arbeitnehmer, ermittelte die DAK, schlucken die Pillen regelmäßig.

Ein Blick in deren Motive konfrontiert die scheinbar so rationalen Argumente für die leistungssteigernden Pillen jedoch schnell mit einer ganz anderen Realität: Nicht das Streben nach einem klaren Kopf nämlich ist der häufigste Grund, warum Arbeitnehmer Psychopharmaka nehmen, sondern die pure Angst.

Der psychische Druck am Arbeitsplatz nimmt drastisch zu: In 84 Prozent der deutschen Betriebe arbeiten Angestellte unter Dauerstress, zeigt eine repräsentative Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2009. Neue Technologien, Rationalisierung und Flexibilisierung betrieblicher Prozesse sowie extremer Zeit- und Leistungsdruck prägen den Arbeitsalltag. Handy, Internet und E-Mail ermöglichen ständige Verfügbarkeit und transportieren die Ansprüche des Jobs bis ins Privatleben. Betroffen sind nicht nur einzelne Beschäftigte, sondern mit durchschnittlich 43 Prozent große Teile der Belegschaft. In insgesamt 79 Prozent der Betriebe, ergab die Umfrage der Böckler-Stiftung unter 1.700 Betriebsräten, haben sich die psychischen Belastungen in den vergangenen drei Jahren deutlich erhöht. In Deutschland gehen allein 10,6 Prozent der Krankheitstage darauf zurück, hat die DAK ermittelt. Auffallend ist auch, dass psychische Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlichzugenommen haben.

Starker Druck in Dienstleistungsberufen

Starkem Druck sind vor allem Arbeitnehmer in Dienstleistungsberufen ausgesetzt – sie arbeiten häufig in Schichten, werden gering entlohnt und ihr soziales Engagement, wie das von Krankenschwestern und Sozialarbeitern, wird häufig nicht ausreichend gewürdigt. Auch in den Branchen Verkehr, Nachrichten und Telekommunikation leidet nach der Erhebung der Böckler-Stiftung jeder Zweite unter Dauerstress.

Laut einer EU-Umfrage ist Stress auch europaweit der Hauptgrund für Krankmeldungen und Fehltage, weshalb das Europäische Parlament die Arbeitgeber dringend aufforderte, die Anforderungen zu senken. Denn 50 Prozent der Fehltage werden auf Überlastung zurückgeführt. Als Ursachen nennen 84 Prozent der deutschen Arbeitnehmervertreter zu große Einsparungen am Personal, 79 Prozent geben das hohe Maß an Verantwortung an und 75 Prozent die Abhängigkeit von Kundenwünschen. "Die Zeit ist knapp, die Terminvorgaben sind eng, das hat sich mit der Konjunkturkrise noch verschärft", sagt Elke Ahlers, Sozialforscherin im Auftrag der Böckler-Stiftung. "Je mehr Menschen entlassen werden, desto mehr müssen die anderen übernehmen, und sie ergreift zusätzlich die Angst, die nächsten zu sein, die arbeitslos werden!"

In der Wirtschaftskrise versuchen die Unternehmen, Geld durch kürzere Arbeitszeiten zu sparen. Statistisch gesehen arbeitete jeder Arbeitnehmer 2009 50 Stunden weniger als im Jahr zuvor. Die Arbeit selbst ist jedoch kaum weniger geworden. Psychoterror am Arbeitsplatz hat in der Krise zugenommen, beobachtet der Verein gegen psychosozialen Stress und Mobbing in Wiesbaden. Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten Erkrankungen, so der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) in einer seiner  Untersuchungen.

Sieben Milliarden Euro Schaden im Jahr

Denn Dauerstress führt zur Ausschüttung des Botenstoffs Cortisol – "das Hilflosigkeitshormon", nennt es Elke Ahlers, das nicht nur die verschiedensten Krankheiten wie Herzkreislaufleiden oder Allergien begünstigt, sondern zum Beispiel auch zu Depressionen führen kann. Der volkswirtschaftliche Schaden durch arbeitsbedingte psychische Belastungen beträgt jährlich fast sieben Milliarden Euro. 3,8 Milliarden kostet es allein die Unternehmen, wenn Mitarbeiter deshalb nicht zur Arbeit kommen.

Vor dieser realen Bedrohung schwinden die Bedenken, Psychopharmaka zu schlucken: 20 Prozent der von der DAK befragten Arbeitnehmer waren der Ansicht, die Risiken der Mittel seien im Vergleich zum Nutzen vertretbar. Männer griffen dabei eher zu aufputschenden Mitteln, Frauen zu beruhigenden.

Nur jeder Siebte sucht dabei einen Arzt auf und lässt sich von ihm beraten. Jeder Fünfte bekommt die Power-Pillen ohne Rezept von Kollegen, Freunden oder aus der Familie. Jeder Zehnte besorgt sie sich über den Versandhandel und umgeht dabei häufig das Betäubungsmittelgesetz. Besonders beliebt ist Ritalin mit dem Wirkstoff Methylphenidat, der bei Kindern und Jugendlichen verschrieben wird, um ihre Aufmerksamkeitsstörung zu beheben. Bei gesunden Erwachsenen soll es Konzentration und Leistungsfähigkeit steigern.

Beliebteste Unternehmerdroge der USA

Seit 2008 problemlos rezeptfrei zu bekommen ist dagegen Modafinil, ein Wirkstoff, der therapeutisch bei krankhafter Müdigkeit angewendet wird. Der Verbrauch steigt, was sich über frühere Verordnungen kontrollieren lässt: Im Zeitraum von 2005 bis 2007 hat sich die Zahl der verordneten Tagesdosen mehr als verdoppelt, so die DAK. In den USA wurde Modafinil sogar zur beliebtesten "Unternehmerdroge " gekürt.

Der Arbeitsdruck erfasst fast jeden Bereich, doch leitende Anstellte und Manager können sich Dopingmittel leichter besorgen und leisten als andere. Sie werden deshalb auch leichter abhängig. "Die Medikamentenabhängigkeit von Geschäftsleuten in führenden Positionen nimmt eindeutig zu", sagt Hubert Buschmann, Chefarzt einer Suchtklinik in Bad Tönisstein. Nicht nur steige die Zahl der Anfragen nach Therapieplätzen, auch berichteten Betriebsärzte großer Firmen hinter vorgehaltener Hand von vielen Problemen durch den Konsum von Arzneien als Aufputschmitteln. Am stärksten gefährdet seien "Karrieristen, Menschen, die sich stark über ihren Beruf definieren" - Banker, Manager, Ärzte, Informatiker, Börsenmakler, Unternehmer und Studenten.

Die DAK, die in ihrem Report Krankschreibungen von 2,5 Millionen erwerbstätigen Mitgliedern auswertete, musste feststellen, dass Psychopharmaka zwischen 2005 und 2007 häufig abweichend von ihrer Zulassung verschrieben wurden. Bei dem Wirkstoff Piracetam zum Beispiel wiesen nur 2,7 Prozent ihrer Versicherten die Diagnose Demenz auf. Die meisten erhielten das Mittel bei einer anderen, knapp 16 Prozent ganz ohne Diagnose, also vermutlich allein mit dem Ziel, die Gedächtnisleistung zu steigern. Für den Wirkstoff Modafinil (krankhafte Müdigkeit) lag bei 24 Prozent der Patienten keine entsprechende Diagnose vor, für Methylphenidat (gegen Hyperaktivität) waren es ähnlich viele.

Gesellschaft fordert maximale Leistungsfähigkeit

Was diese Substanzen im Kopf genau machen, ist häufig nicht im Detail erforscht. So zeigte eine im Jahr 2008 veröffentlichte Studie, dass die als Antidepressivum gerühmten Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs), die auch in der Gute-Laune-Pille "Prozac" enthalten sind, vermutlich nur bei einem Teil der Patienten - und zwar den wirklich an schweren Depressionen erkrankten - überhaupt Wirkung zeigen.

Auch das Demenzmittel Piracetam wurde in einer Cochrane-Review, der strengen Auswertung bestehender wissenschaftlicher Studien, für die Behandlung von kognitiven Störungen als relativ wirkungslos eingestuft. Der DAK-Report kam zu dem Schluss, dass "die Datenlage zu den vermeintlich leistungssteigernden Effekten von 'cognitive enhancern' bei Gesunden unzureichend ist." Das gelte auch für potentielle Folgeschäden.

Neben der Frage, ob die als Brain-Booster verwendeten Medikamente überhaupt wirken, vielleicht für die Gesundheit schädlich sind und möglicherweise abhängig machen, gibt es aber noch einen weiteren zentralen Aspekt der Debatte: den ethischen. Darf die Gesellschaft die maximale Leistungsfähigkeit von ihren Mitgliedern fordern und ihnen gleichzeitig verweigern, dies biochemisch zu unterstützen? Werden sich die Anforderungen im Beruf ähnlich zuspitzen wie im Leistungssport und deshalb ein Doping geradezu herausfordern? Ist es nicht so, dass das Medikament Ritalin, das hyperaktiven Kindern verschrieben wird, bereits auf eine solche Entwicklung hinweist?

Experten wollen Debatte in Gang bringen

Auch bei Studenten und Professoren dienen Pillen dazu, die Arbeits- und Lernfähigkeit zu steigern. Das hatten die Neuropsychologin Barbara Sahakian aus Cambridge und die Psychiaterin Sharon Morein aus Oxford zu einem auch unter Wissenschaftlern heftig diskutierten Thema gemacht, als sie im Jahr 2007 einen entsprechenden Aufsatz in dem renommierten Wissenschaftsjournal "Nature" veröffentlichten. Ein Jahr später führten Londoner Mediziner eine öffentliche Debatte darüber, ob es legitim sei, wenn Operateure ihre Leistung durch Hirndoping verbesserten. Hirnforscher, Ethiker und Juristen forderten im selben Jahr, die Gesellschaft auf einen verantwortlichen Umgang mit hirnwirksamen Medikamenten vorzubereiten, die Wirkung der Arzneimittel bei Gesunden zu untersuchen, Richtlinien zu entwickeln und über Risiken, Vorteile und Alternativen zu informieren.

Schon 2002 hatte der Publizist Francis Fukuyama in seinem Buch "Our Posthuman Future" prognostiziert, dass Psychodrogen ein größeres Potential hätten, die Menschheit zu verändern, als die Gentechnik. In einer Gesellschaft, deren Mitglieder ein immer höheres Alter erreichen und Jugendlichkeit des Körpers zur gesellschaftlich akzeptierten Idealvorstellung geworden ist, muss auch die geistige Leistungsfähigkeit mithalten. Dafür werden nicht nur Medikamente, sondern zunehmend auch Bioimplantate dienen, wie sie jetzt schon das Hör- oder Sehvermögen verbessern. Die Möglichkeit, durch einen Brainchip auch andere Bereiche der Informationsverarbeitung im Gehirn zu optimieren, liegt in keiner allzu fernen Zukunft.

Solche weitgehenden Eingriffe ins Gehirn, das Zentrum der menschlichen Individualität, stellen aber viel weitgehendere Fragen als die nach biologischer Verträglichkeit und gesetzlichen Rahmenbedingungen: Sie zwingen die Gesellschaft, völlig neu zu definieren, was jenseits der Maschinisierung des Körpers das Menschliche noch ausmachen kann.