"Unverantwortlicher Angriff": Kritik an NATO in Afghanistan
Allen Aufforderungen und Beteuerungen, die Bevölkerung besser zu schützen, zum Trotz: Bei einem Luftangriff in Afghanistan sind wieder Unbeteiligte getötet worden, auch Frauen und Kinder.
22.02.2010
Von Can Merey

Nachdem Stanley McChrystal im Juni vergangenen Jahres das Kommando über die Internationale Afghanistan-Schutztruppe ISAF übernommen hatte, verordnete er seinen Soldaten einen Kurswechsel. Der Schutz der Bevölkerung, nicht das Töten von Taliban müsse im Mittelpunkt stehen, sagte der US-General immer wieder. In seiner "Richtlinie zur Aufstandsbekämpfung" schrieb er: "Verdient euch die Unterstützung der Menschen, und der Krieg ist gewonnen." Doch seit Beginn der Großoffensive in Südafghanistan - die als Testfall für die ISAF-Strategie gilt - erleidet die Schutztruppe im Kampf um die Unterstützung der Afghanen einen Rückschlag nach dem nächsten. Binnen acht Tagen töteten Soldaten fast 50 Zivilisten.

"Absolute Vorsicht"? Fehlanzeige

Zu Beginn der Offensive in der südafghanischen Provinz Helmand am vorvergangenen Samstag appellierte der afghanische Präsident Hamid Karsai an die Truppen, "absolute Vorsicht" walten lassen, um Schaden von Unbeteiligten abzuwenden. Doch bereits am zweiten Tag der Operation "Muschtarak" ("Gemeinsam") verfehlten Raketen der NATO-geführten ISAF eine Taliban-Stellung, zwölf Zivilisten starben. McCrystal entschuldigte sich bei Karsai und gelobte besseren Schutz der Zivilbevölkerung. Am Tag darauf töteten ISAF-Bomben fünf Zivilisten in Helmands Nachbarprovinz Kandahar. Während der Operation "Muschtarak" erschossen Soldaten außerdem mindestens vier Zivilisten, die sie irrtümlich für Taliban-Kämpfer hielten.

Dann schien der Einsatz am Hindukusch doch noch Rückenwind zu bekommen: Pakistan verkündete, der Vize-Chef der afghanischen Taliban, Mullah Abdul Ghani Baradar, sei gefasst worden. Danach wurden weitere Festnahmen von afghanischen Taliban-Führern in Pakistan vermeldet, die zwar offiziell unbestätigt blieben, die die Aufständischen aber schwächen könnten. Auch die überaus wichtige Operation "Muschtarak" macht nach ISAF-Angaben Fortschritte. Doch all diese aus NATO-Sicht positiven Entwicklungen werden überschattet von den zivilen Opfern, die die Truppen verursachen.

"Leid und Bedauern" - Blutigster Vorfall seit Jahresbeginn

Am Montag nun wurde der blutigste Fall seit Jahresbeginn bekannt. Die Zivilisten fuhren nicht durchs Kampfgebiet in Helmland, sondern waren von der südafghanischen Provinz Dai Kundi nach Kandahar unterwegs, als ISAF-Bomben ihren Konvoi am Sonntag trafen. Truppen hätten eine Gruppe Menschen ausgemacht, die sie für Aufständische auf dem Weg zum Angriff auf eine Einheit aus afghanischen und ISAF-Soldaten hielten, hieß es zur Begründung des Angriffs.  Nach Angaben der afghanischen Regierung sind unter den 27 Toten vier Frauen und ein Kind. McChrystal sah sich gezwungen, Karsai erneut sein "Leid und Bedauern" über den Tod von Zivilisten zu bekunden. Den Präsidenten konnte das nicht besänftigen.

Erst am Samstag hatte Karsai bei einer emotionalen Ansprache im Parlament in Kabul ein Foto hochgehalten, das ein achtjähriges Mädchen zeigte - nach seinen Worten die einzige Überlebende des fehlgeschlagenen NATO-Raketenangriffs von Helmand, bei dem zwölf ihrer Angehörigen getötet worden waren. Karsai forderte, die zivilen Opfer bei Militäroperationen müssten auf null reduziert werden. Nach dem jüngsten Bombardement übte seine Regierung nun harsche Kritik an der NATO. Der Luftangriff sei "unverantwortlich", hieß es in einer Erklärung des Kabinetts und werde "auf das Schärfste verurteilt".

Taliban-Attentate kosten weit mehr Unbeteiligte das Leben

Karsai muss seit Jahren machtlos dabei zusehen, wie seine Appelle zwar gehört werden, aber kaum Wirksamkeit zeigen. Bereits 2007 nannte er die zivilen Opfer "nicht mehr verständlich" und sagte verbittert: "Afghanen sind auch Menschen." Jeder Zivilist, den die Truppen töten, treibt Angehörige des Opfers in die Arme der Taliban. Dem Propagandaapparat der Aufständischen dient jedes zivile Opfer dazu, die Soldaten als Besatzer zu verteufeln. Die Taliban unterschlagen dabei, dass ihre Anschläge weitaus mehr Unbeteiligte das Leben kosten, als es Operationen der Militärs tun. Sie lassen auch unerwähnt, dass ihre Attentäter keinerlei Rücksicht auf Unbeteiligte nehmen oder sie sogar gezielt angreifen, während die Soldaten zumindest versuchen, zivile Opfer zu vermeiden.

So riss am Montag ein Selbstmordattentäter in der ostafghanischen Provinz Nangarhar bei einem Angriff auf Provinzbeamte mindestens 15 Menschen mit in den Tod, die meisten davon Zivilisten. Viele Afghanen sagen aber, für Militärs müssten andere Maßstäbe gelten als für Terroristen - die Truppen stünden daher in der Pflicht, mehr Rücksicht zu nehmen als die Taliban. Die zivilen Opfer bei Militäroperationen sorgen inzwischen für solchen Unmut in der Bevölkerung, dass sie den gesamten Einsatz gefährden.

 Auch deswegen reagierte McChrystal nach dem von der Bundeswehr angeordneten Bombardement in Kundus im vergangenen September, bei dem auch Unbeteiligte starben, so ungehalten, dass sich Berlin irritiert zeigte. Der Schutz der Zivilbevölkerung steht im Zentrum von McChrystals Strategie, er spiegelt sich nicht nur in seiner Richtlinie vom vergangenen August wider. Bereits im Monat zuvor hatte der General eine "taktische Direktive" erlassen, mit der Luftschläge eingeschränkt werden sollten, die bei Militäroperationen die meisten zivilen Opfer fordern.

Ungemach droht auch aus den Niederlanden

In der Direktive hieß es: "Wir müssen die Falle vermeiden, taktische Siege zu erzielen - während wir gleichzeitig strategische Niederlagen erleiden, indem wir zivile Opfer oder exzessive Schäden verursachen und damit das Volk verprellen." Doch auch Militärs räumten ein, dass Papier geduldig ist - und dass es auf die Umsetzung der Befehle aus dem fernen Hauptquartier in Kabul durch die Truppen im Kampfgebiet ankommt, ob sie die erhoffte Wirkung zeigen.

Probleme bereiten der NATO nicht nur die zivilen Opfer. Ungemach droht zudem aus den fernen Niederlanden, wo über den Streit um den Einsatz in der südafghanischen Provinz Urusgan am Wochenende die Regierung zerbrach. Den Haag hat den Abzug der Soldatem aus Urusgan bis zum Jahresende angekündigt. Die NATO will, dass die Niederländer, die das Pentagon ausdrücklich lobt, noch bleiben. Keine andere Nation steht bereit, das Kommando in der Unruheprovinz zu übernehmen. Vermutlich würde der undankbare Job wieder an den Amerikanern hängenbleiben - die schon mit gut 4.500 Soldaten im deutschen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan aushelfen müssen.

dpa