"Von den Kindern kommt ja auch etwas zurück"
Die Mobile Kinderkrankenpflege Frankfurt gibt es seit 1979, als erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Sie deckt mit acht Kinderkrankenschwester ein riesiges Stadtgebiet ab. Das Ziel: Klinikaufenthalte so kurz wie nötig halten und den Kindern ein unabhängiges Leben in gewohnter Umgebung bei ihren Familien zu ermöglichen.
20.02.2010
Von Hanno Terbuyken

"Das Fahren ist nicht das Schlimmste, sondern das Einparken." Ines Grün setzt den Blinker und fädelt ihren Twingo in den Frankfurter Verkehr ein. Das tägliche Verkehrschaos gehört für sie dazu, sie kann ihm nicht entkommen. Denn am anderen Ende der täglichen Blechlawine warten Patienten, die ihre Hilfe brauchen.

Ines Grün ist eine von acht Kinderkrankenschwestern der Mobilen Kinderkrankenpflege Frankfurt. Jeden Tag fahren sie und ihre Kolleginnen raus, morgens, mittags, abends, um Kinder zu versorgen. Die Mobile Kinderkrankenpflege betreut zwischen 30 und 40 Patienten, vom Neugeborenen bis zum pubertierenden Jugendlichen, verteilt auf mehr als 280 Quadratkilometer Stadtgebiet. Der Bedarf übersteigt das Angebot. Schwester Ines Grün beginnt den Tag wie jeden anderen Arbeitstag: Kurz in der Zentrale in Bornheim vorbeischauen, letzte Details zur Route klären, dann ins Auto steigen und raus auf die Straße.

Die mobile Pflege ist zeitaufwendig

Ihr erster Weg führt sie heute einmal quer durch das nordöstliche Frankfurt, vom Bornheimer Büro bis in die Nordweststadt. Es geht in die Mosaik-Schule. Die mobile Kinderkrankenpflege komnmt nicht nur zu den Patienten zu Hause. Kinder, die zu festen Zeiten Pflege brauchen, bekommen sie überall – auch in der Schule. Das ist der große Vorteil der mobilen Pflege, sagt Chefin Erika Zimmermann: "Wir versuchen, den Kindern und ihren Familien so weit wie möglich ein normales Leben zu ermöglichen." Wenn einer der kleinen Patienten in die Klinik muss, ist das auch für die mobilen Pflegerinnen bedrückend.

Auf dem Weg erzählt Schwester Ines Grün, wie breit die Spanne ist, die sie täglich in ihrer Arbeit abdeckt. Das reicht unter anderem von Insulin-Spritzen für Kinder mit Diabetes über Katheter- und Verbandswechsel bis zur einstündigen intravenösen Antibiotika-Gabe, per Infusion direkt in die Blutbahn. In solchen Fällen, erzählt Ines Grün, bleiben die Schwestern so lange da wie nötig: "Die Kinder werden von uns noch bespielt. Wir machen dann noch eine Stunde Programm." Für die Kinderkrankenschwestern ist diese Zeit mehr als nur die Überwachung des Infusors.

Sie lernen über die Zeit ihre kleinen Patienten kennen, sie verbringen Zeit mit ihnen, und das ist mehr als nur die medizinische Behandlung. "Von den Kindern kommt ja auch was zurück", berichtet Ines Grün – das ist einer der Gründe, warum sie Kinderkrankenschwester geworden ist. Den Eltern hilft das auch, gerade bei Kindern, die rund um die Uhr Pflege brauchen. Wenn die Kinderkrankenschwester da ist, ist das für Eltern oft die einzige Stunde des Tages, die sie für sich selbst nutzen können.

"Festhalten, schön festhalten!"

An der Mosaikschule, einer Förderschule für geistig behinderte Schülerinnen und Schüler, ist wieder kein Parkplatz frei. Schwester Ines quetscht ihren Twingo in eine unwahrscheinliche Lücke – Parktickets sind im mobilen Pflegedienst keine Seltenheit. "Ich habe auch schon mit einem Polizisten diskutiert", sagt Ines, aber die Staatsmacht interessiert sich nicht für die Aufgabe des Pflegedienstes – trotz des unübersehbaren offiziellen Schildes hinter der Windschutzscheibe.

Ines' Patienten hier sind Sali und Karolina, beide 14 Jahre alt. Sali leidet an einem Gendefekt namens CDC- oder "Katzenschrei-Syndrom". Nur wenige Kinder mit den gleichen Komplikationen wie er überleben ihr erstes Lebensjahr, Sali ist einer der glücklichen, trotz seiner motorischen Störungen und der stark verminderten Sprachfähigkeit. Karolina hat Trisomie 21, das Down-Syndrom. Beide haben einen künstlichen Darmausgang am Bauch, und Ines Grün hat die Aufgabe, die Auffangbeutel auszuwechseln. Sali ist der schwierigere der beiden. Wenn er keine Lust hat, wirft er sich einfach auf den Boden und schaltet ab. Aber Schwester Ines muss ihren Job trotzdem machen, mit viel Geduld, aber auch zupackender Überzeugungskraft, falls nötig. Diesmal geht alles glatt, auch wenn Sali sich windet und dreht, aber er arbeitet gut mit.

Bei Karolina ist es einfacher. "Festhalten, schön festhalten!" fordert die Kinderkrankenschwester Karolina auf. Sie hat gelernt, ihren Bauch anzuspannen, damit sich der künstliche Dünndarmausgang nicht auf den Schwesternkittel von Ines Grün entleert. Ein Ziel der mobilen Krankenpflege ist, auch behinderten Patienten wie Karolina beizubringen, solche Routine-Aufgaben selbst zu erledigen. Die eine Seite des neuen Beutels kann die 14-Jährige schon einhaken, die andere hat sie noch nicht gemeistert. Aber Schwester Ines ist voller Hoffnung: Karolina wird es noch lernen. "Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel behinderte Kinder lernen können", sagt sie. Mit der richtigen Begleitung können Menschen wie Karolina ein fast selbständiges Leben führen.

"Kinder sind keine kleinen Erwachsenen"

"Das ist für das Selbstbewusstsein der Kinder ganz wichtig", beschreibt Ines Grün. Sie erzählt von einem vierjährigen Jungen, der gelernt hat, sich selbst zu kathetern. So etwas ist für die Kinder ein wichtiges Stück Unabhängigkeit: "Sie können zum Beispiel zum ersten Mal bei einem Freund übernachten." Kinder, die ständig Routine-Pflege brauchen (Insulin-Spritzen zum Beispiel), sollen ein Gefühl für sich und ihre Krankheit entwickeln.

Das größte Hindernis dafür können die Eltern sein. "Die müssen das zulassen", fordert Ines Grün mit der Erfahrung ihrer Berufsjahre. Dafür müssen Eltern aber anerkennen, dass das Mithelfen ihren Kindern gut tut. Und: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!" sagt Ines Grün, eine Tatsache, die auch viele Ärzte noch nicht verstanden hätten, auch Kinderärzte nicht.

Auf dem Weg zum nächsten Patienten berichtet Ines Grün von ihren Erfahrungen mit dem Drumherum und dem System. Es sind diese Hürden, die sie in ihrer Arbeit frustrieren: Kinderärzte, die sagen: "Die Eltern müssen das können" und die aufsuchende Krankenpflege nicht für nötig halten, schwerbehinderte Kinder unter einem Jahr, die keine Pflegestufe bekommen (und damit auch kein Geld), weil sie zu jung sind, Klinikärzte, die Kinder eben doch nur als kleine Erwachsene begreifen.

Die Familien in die richtigen Netzwerke einklinken

Ines' letzter Patient an diesem Vormittag ist Ashraf, vier Monate alt, gerade aus Gießen von einer Herzoperation zurück. Den Eltern ist anzusehen, wie sehr sie sich über die gelungene Operation freuen – und Ashraf auch. Dreimal war die OP verschoben worden, bevor die Ärzte den größten Herzfehler korrigierten. Der kleine Mann ist aufmerksam, hält sich an seiner Mutter fest, schaut Schwester Ines beim Füttern mit wachen Augen an, schreit um Aufmerksamkeit, atmet normal – für all diese Dinge war Ashraf vor der Operation zu schwach.

Die Eltern sind aus dem arabischen Raum nach Deutschland gekommen. Sie sprechen zwar ausreichend gut Deutsch, aber die komplizierten Namen der Medikamente verwirren Mutter und Vater. Schwester Ines geht mit ihnen die Dosierung und Zeiten durch. Auch die Dokumentation aus der Klink ist nicht völlig komplett: Wie oft Ashraf essen soll, ist nicht klar.

Ines Grün erklärt den Eltern, dass sie bei ihrem Kinderarzt nachfragen sollen. Sie verspricht ihnen auch, mit der Frühförderung zu telefonieren. "Das kriegen wir nicht bezahlt, aber es gehört zu einer ganzheitlichen Pflege dazu", die Kinder und Familien in die richtigen Netzwerke zu bringen: "Wir müssen Familien oft überzeugen, Hilfe von außen anzunehmen oder einen Kindergartenplatz zu suchen." Dazu gehört auch, ihnen die Angst vor staatlicher Unterstützung vom Jugendamt zu nehmen.

Zur Finanzierung auf Spenden angewiesen

Das funktioniert, weil die Kinderkrankenschwestern die Familien der Patienten sehr gut kennen lernen. Es ist Vertrauen da: "Man ist jeden Tag da, nach ein, zwei Wochen verstecken sie nichts mehr", erzählt Schwester Ines. Das ist zeitaufwendig, und das Geld der Krankenkassen reicht dafür nicht aus. Die Mobile Kinderkrankenpflege ist auf Spenden angewiesen. Zur Hälfte finanziert sich die Einrichtung mit ihren acht Krankenschwestern über Zuwendungen der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung und der Stadt Frankfurt, die Krankenkassen decken nur ein weiteres Drittel ab. Das Loch, das durch Spenden gefüllt werden muss, ist dadurch ziemlich groß.

Spenden wie der Erlös der Weihnachtstombola des Gemeinschaftswerks der evangelischen Publizistik, zu dem auch evangelisch.de gehört, machen die Arbeit von Ines Grün und ihren Kolleginnen daher erst möglich. Für heute parkt sie ihren Twingo vor der Tür des Büros, übrigens in einer Wohnung, die der Cronstett- und Hynspergischen Stiftung gehört. Im Büro in Bornheim ist ihre Chefin Erika Zimmermann damit beschäftigt, die nächsten Routen zu planen. Die Routen verschieben sich täglich – hier kommt ein Kind ins Krankenhaus, da ist eine Familie im Urlaub. "Das ist nicht planbar", sagt Zimmermann. Für Ines Grün ist der Arbeitstag fast vorbei. Nur noch ein paar Telefonate, dann wird sie am nächsten Morgen wieder in ihren Twingo steigen. Sali, Karolina und Ashraf werden auch dann wieder auf sie warten.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".