In Tübingen hat das Landestheater Württemberg-Hohenzollern (LTT) die Studentenrevolte von 1968 als Bühnenstück aufgearbeitet. Monatelang haben die Theatermacher recherchiert, Zeitzeugen befragt und auch Studenten von heute zu Wort kommen lassen. Herausgekommen ist eine solche Fülle an Material, dass die Premieren-Zuschauer bei der Uraufführung des Stücks "68" aufpassen mussten, nicht den Überblick zu verlieren.
Der rebellische Geist der "68er" ist in Tübingen legendär. Selbstbewusst setzten die Studenten ihre Interessen durch, forderten von den Dozenten Diskussionen statt einseitiger Vorlesungen - und düpierten die Hochschullehrer, die Widerworte der Studenten einfach nicht gewohnt waren. Die Professoren waren entsetzt. Der Tübinger Theologieprofessor Joseph Ratzinger soll von der Revolte so erschüttert gewesen sein, dass aus dem reformorientierten Theologen schließlich der konservative Papst Benedikt XVI. wurde.
Durchbrochene Handlung am Originalschauplatz
Episodenhaft zeigt das Theaterstück, das am Originalschauplatz in der Universität aufgeführt wird, wie die Studenten ihre Rechte einforderten: In der Auseinandersetzung mit den autoritären Eltern, im Kampf gegen Professoren mit NS-Vergangenheit, im Streben nach sexueller Freiheiten oder in der Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Vietnamkriegs. Nicht immer erschließt sich den Theaterbesuchern sofort, was die einzelnen Szenen miteinander zu tun haben. Komplizierte Monologe und auf Video aufgenommene Zeitzeugeninterviews bringen zusätzliche Brüche in der Handlung.
Unterbrochen wird die 68er-Revolte immer wieder, wenn Studenten von heute auf der Bühne gegen Studiengebühren oder für kleinere Seminargruppen protestieren. Denn während sich die Theatermacher im vergangenen November mit den aufbegehrenden "68ern" beschäftigten, besetzten Studenten aus Protest gegen die Bildungspolitik den Tübinger Kupferbau und wurden auf Betreiben der Universität von einer Hundertschaft der Polizei rausgeworfen. Mehrere der Besetzer stießen danach zu den Theatermachern und stehen nun auch selbst auf der Bühne.
68er haben mit den 00er-Protestierern wenig gemein
Einige "68er" haben das mit gemischten Gefühlen betrachtet. Die Proteste der Studenten heute seien zu sehr auf deren eigene Interessen ausgerichtet, kritisierte einer der Aktivisten von damals, der per Videoaufnahme in das Theaterstück eingeblendet wurde. Themen wie die Lage in Afghanistan oder die Diskussion um Hartz IV spielten heute überhaupt keine Rolle mehr. Die Studenten von heute wehren sich gegen den Vorwurf. Sie haben ganz andere Probleme, weil immer weniger Kommilitonen überhaupt bereit sind, für etwas einzutreten. "Wir müssen heute mit strebsamen Chinesen um den Wohlstand kämpfen. Politisch sein bringt da gar nichts", konstatiert einer.
Regisseur Clemens Bechtel hat als Theatermacher und Journalist Erfahrung damit, historische Ereignisse aufzuarbeiten und theatralisch umzusetzen. Zuletzt brachte er am Potsdamer Hans Otto Theater mit 15 ehemaligen Häftlingen aus den Stasi-Gefängnissen der DDR das preisgekrönte Projekt "Staats-Sicherheit" auf die Bühne. Die Zuschauer des Tübinger Landestheaters stehen am Ende aber vor der gleichen Frage wie die 68er-Zeitzeugen und die protestierenden Studenten von heute: Was bringt der ganze Protest? Eine Studentin antwortet auf der Bühne: "Man hat etwas bewegt, aber doch zu wenig."