"Volkszählung" im Meer: Zehn Millionen Arten?
Die Tiefsee galt vor wenigen Jahrzehnten noch als leblose "Unterwasser-Wüste". Wissenschaftler dringen erst langsam in große Tiefen vor und entdecken dabei fast täglich neue Arten.
19.02.2010
Von Sabine Ränsch

In den Ozeanen leben vermutlich rund zehn Millionen verschiedene Arten, darunter etwa Algen, Bakterien, Fische, Korallen oder Säugetiere, behauptet Professor Pedro Martínez, Direktor des Forschungsinstituts Senckenberg am Meer. Längst sind nicht alle bekannt, die Zahl sei eine Hochrechnung. Vor allem in der Tiefsee, mehrere tausend Meter unter dem Meeresspiegel, tut sich den Forschern eine riesige Vielfalt auf. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt diese kaum erforschte Region als fast leblose "Unterwasser-Wüste".

Seit zehn Jahren läuft die bisher größte wissenschaftliche "Volkszählung" in den Meeren. An diesem "Census of Marine Life" beteiligen sich Forscher aus 70 Ländern. Sie untersuchen sämtliche Ökosysteme, von der Küste bis in die Tiefsee. Ende 2010, das die Vereinten Nationen zum Jahr der biologischen Vielfalt ausgerufen haben, sollen die Ergebnisse präsentiert werden. Sie sehen die Zahl der möglichen Arten nicht ganz so optimistisch wir Martínez: "Die Gesamtzahl der Arten könnte mehr als eine Million betragen", heißt es auf der Webseite des Projekts - vielleicht dann doch nicht die zehn Millionen, mit denen der Professor des Forschungsinstituts Senckenberg rechnet.

Aber egal wie viele Arten in den Ozeanen schwimmen: Die Wissenschaftler werben dafür, das Leben in den Meeren zu schützen und die Vielfalt zu erhalten. Wieviel Leben in den Meeren bereits zerstört ist, können die Forscher noch nicht sagen. Es ist aber ein Teil der Arbeit des "Census of Marine Life", auch diesen Aspekt anhand von alten Akten, Aufzeichnungen, Registern und Fotos zu erforschen. Sicher sei aber, dass die Überfischung das Artenspektrum stark verändert habe.

Größte wissenschaftliche "Volkszählung"

Fische dürften die kleinste Gruppe der Ozeanbewohner sein: Auf rund 40.000 werde die Zahl ihrer Arten geschätzt, sagte Rainer Froese vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften Geomar (Kiel). Derzeit seien 30.000 Fischarten bekannt, davon 15.000 im Meer. Pro Jahr werden 200 bis 400 neue Arten entdeckt, vor allem in der Tiefsee und in den Tropen.

Erst langsam dringen Wissenschaftler in große Tiefen vor und entdecken dabei fast täglich neue Arten. Wegen des hohen Drucks sind hochspezialisierte Roboter und Messgeräte nötig, um diese für Erdbewohner tödlichen Lebensräume zu erkunden. Fast 90 Prozent der Tiere, die Wissenschaftler aus der Tiefe hochziehen, sind neue Arten, viele davon bizarr anmutend. 500 neue Arten seien inzwischen wissenschaftlich beschrieben, "aber wir haben tausende gefangen, wir kommen nicht hinterher", sagte Martínez.

"Wir haben Erstaunliches gefunden"

In der Tiefsee stoßen die Forscher auch auf ganz spezielle Lebensräume, etwa "schwarze Raucher", das sind heiße Thermalquellen, in deren Umgebung hoch spezialisierte Bakterien und meterlange Würmer in Gemeinschaft zusammenleben. Unter der Meeresoberfläche finden sich auch mehrere tausend Meter hohe Seegebirge und bis zu 35 Kilometer lange Kaltwasser-Korallenriffe. "Wir haben Erstaunliches gefunden", sagt Prof. Antje Boetius von der Universität Bremen. Anders als im Tierreich werde die Vielfalt der Bakterien in Polargebieten zum Beispiel größer. Ihre Funktionen seien noch unbekannt.

Für die Bestimmung der neuen Spezies haben die Forscher des "Census of Marine Life" verschiedene Methoden neu oder weiterentwickelt. Eine davon ist das so genannte "Species Barcoding", eine Methode, mit der noch an Bord der Forschungsschiffe aus der DNA eines Meeresbewohners eine unverkennbare Sequenz ermittelt wird. So können Forscher schnell ermitteln, ob sie es mit einer bekannten oder noch unbekannten Spezies zu tun haben.

Das pralle Leben in den Meeren zeigt der Dokumentarfilm "Unsere Ozeane", der in der kommenden Woche in die Kinos kommt. Tanzende Quallen, riesige Fischschwärme, anmutige Wale und elegante Rochen sind in atemberaubenden Aufnahmen zu sehen. Vier Jahre lang haben Jacques Perrin und Jacques Cluzaud, die 2001 "Nomaden der Lüfte - Geheimnis der Zugvögel" drehten, das Leben in und an den Weltmeeren beobachtet.

dpa/han