evangelisch.de: Herr Elitz, vergangene Woche haben Sie Guido Westerwelle zu einem klaren Spar- und Schuldenabbau-Profil geraten. Stattdessen hat er eine riesige Debatte über den Sozialstaat losgetreten. Der FDP-Chef gegen den Rest der Republik - von der Opposition über den Koalitionspartner bis zur Kirche handelt er sich heftige Kritik ein. Was für einen Sinn hat sein Manöver?
Ernst Elitz: Bei den Attacken auf Westerwelle ist auch viel gespielte Empörung dabei. Jeder Politiker, der rechnen kann, weiß, dass bei einer sinkenden Zahl von Steuerpflichtigen nicht dauerhaft fast die Hälfte der Staatseinnahmen in unterschiedliche Sozialkassen gelenkt werden kann. Nur mit Kürzen ist es nicht getan. Es muss umgesteuert werden. Die 48 Milliarden Euro, die jährlich an Hartz-IV-Empfänger ausgezahlt werden, könnten besser in Beschäftigungsverhältnisse der Öffentlichen Hand investiert werden: Von Hausaufgabenbetreuung und Altenpflege bis zur öffentlichen Sicherheit und Sauberkeit - überall schreit es nach Hilfe. Da ist für jeden Hartz-IV-Empfänger etwas dabei. Wenn die Debatte über den Sozialstaat, die Westerwelle mit seiner dümmlichen Bemerkung über die "spätrömische Dekadenz" angestoßen hat, diese Wendung nimmt, dann hätte er einen wichtigen Impuls für die Zukunft gesetzt. Aber um seine Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, muss er nun ebenso Einsparungsvorschläge für andere Politikbereiche vorlegen.
evangelisch.de: Zahlreiche frühere Fälle von Kindesmissbrauch in katholischen Schulen kommen gerade ans Tageslicht - auch dank aufklärungswilliger Geistlicher. Der Augsburger Bischof Mixa hat nun für Aufregung gesorgt, indem er der sexuellen Revolution eine Mitschuld gab. Wenn Sie mit ihm diskutieren könnten, was würden Sie ihm sagen?
Elitz: Lieber Seelenhirte, es ist leichter, die Schuld bei anderen zu suchen als bei sich selbst. Hätten alle Würdenträger sich so verhalten wie der Jesuitenpater Mertes, der dem Canisius-Kolleg vorsteht, dann wäre mancher Missbrach verhindert und eine vernünftige Sexualaufklärung an katholischen Schulen und in Priesterseminaren möglich gewesen. Die öffentlichen Geschmacksverirrungen, die bei Love- und anderen Paraden auf den Straßen bejubelt werden, verstellen den Blick auf die wahren Segnungen der sexuellen Revolution: Abbau von Verklemmungen, offene Gespräche, Akzeptanz unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierungen. Insoweit, lieber Bischof Mixa, braucht auch die katholische Kirche eine sexuelle Revolution.
evangelisch.de: Deutschland staunt: Lidl macht sich für Mindestlöhne stark. Gegen menschenwürdige Bezahlung hat natürlich keiner was - andererseits ist die Billig- und Schnäppchen-Mentalität der Deutschen international berüchtigt, große Kundenscharen überzeugt man nur per Kampfpreis. Oder ändert sich da womöglich was - ausgerechnet in der Krise?
Elitz: Das Einlenken von Lidl ist nicht denkbar ohne die nachhaltige Berichterstattung der Medien. Dass sie am Fall Lidl drangeblieben sind, hat gezeigt, wie sinnvoll und wie erfolgreich Medienkampagnen sein können. Der Kunde, der es möglichst billig haben will und sich zugleich über die miserable Bezahlung der Lidl-Mitarbeiter beklagt, ist ein Heuchler. Er lamentiert ja auch - während er zum Supermarkt auf die Grüne Wiese fährt und den Laden an der Ecke links liegen lässt - über das Sterben der Tante-Emma-Läden. Würde der Konsument verantwortlich handeln, hätten es Ketten wie Lidl niemals soweit gebracht.
Prof. Ernst Elitz, Jahrgang 1941, lebt als freier Publizist in Berlin. Nach seinem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften, Politik und Philosophie kam er über Stationen wie den "Spiegel" und das öffentlich-rechtliche Fernsehen zum Deutschlandradio, das er als Gründungsintendant von 1994 bis 2009 leitete.