Wenn am Ende des Geldes noch viel Monat übrig ist
Zwei Kirchengemeinden in Hamburg haben sich vorgenommen, einen Monat nur von Hartz IV zu leben - natürlich vom eigenen Geld. Mit 359 Euro auszukommen wird nicht einfach, darum treffen sich die Hartz-IV-Faster regelmäßíg zum gemeinsamen Austausch. Die Initiatoren wollen mit der Fasten-Aktion die Aufmerksamkeit für die viel diskutierte Sozialleistung steigern.
17.02.2010
Von Thomas Östreicher

Beruhigendes zum Thema Hartz IV verkündete im Februar 2008 Thilo Sarrazin, damals Berliner Finanzsenator: "Man kann sich vom Transfereinkommen vollständig, gesund und wertstoffreich ernähren." Ein Praxisversuch in eigener Sache steht für ihn allerdings vorerst nicht auf der Agenda: Im April 2009 wechselte der SPD-Politiker in den Vorstand der Bundesbank – deren besonders hohe Gehälter und Abfindungen hatte der Bundesrechnungshof zuvor deutlich kritisiert.

"Bei uns kann jeder am eigenen Leib erfahren, ob Herr Sarrazin Recht hat." Christina Reiche lädt Sarrazin und alle, die das Lied von der sozialen Hängematte singen, herzlich zur Überprüfung ihrer Meinung ein. Die Sprecherin des evangelischen Kirchenkreises Hamburg-Ost kündigte jetzt eine außergewöhnliche Aktion zum Thema an: "Hartz-IV-Fasten", einen Monat lang.

Auch der Propst versucht es mit 6 bis 7 Euro pro Tag

Vom 1. bis 31. März – über die Dauer eines amtsüblichen Berechnungszeitraums also – werden freiwillige Probanden versuchen, vom aktuellen Regelsatz nach dem 2. Sozialgesetzbuch zu leben. Heißt: 359 Euro stehen ihnen fürs Leben jenseits von Miete, Heizung und Versicherung zur Verfügung. Nach Abzug der zwingenden Ausgaben für Medikamente, Telefon und Fahrkarten bleiben für Essen und Trinken, Kleidung und Kultur etwa 6 bis 7 Euro pro Tag. Schwer vorstellbar für Menschen ohne Geldsorgen.

Genau die sollen mit der Aktion zur Fastenzeit erreicht werden. "Anliegen dieses Projekts ist es, die Menschen für das Thema Hartz IV zu sensibilisieren", sagt der Hamburger Propst Jürgen F. Bollmann. Viele seien nämlich noch immer der Ansicht, Hartz IV ermögliche ein Luxusleben. "Wir laden alle ein, sich selbst ein Bild zu machen", sagt der Kirchenmann – und geht selbst voran: Auch er versucht, im März nicht mehr als 359 Euro auszugeben.

Verzicht auf den Coffee to go

Einfach wird das nicht, und sozialverträglich schon gar nicht. Die bedrückendste Erfahrung, hat Christina Reiche beobachtet, ist für viele, dass sie am gewohnten Gemeinschaftsleben kaum noch teilnehmen können. Kino, Essen gehen, Sauna, der der Sportclub und die Klassenreise der Kinder werden mit einem Mal zum Luxus, der wohlüberlegt sein will. "Wenn ich feststellen muss, was es heißt, auf den schnellen Latte Macchiato zu verzichten und den gemeinsamen Theaterbesuch, dann habe ich einen ganz anderen Zugang zum Thema."

Doch was ist, wenn beim Selbstversuch tatsächlich am Ende des Geldes noch viel vom Monat übrig ist? Das genau ist die spannende Frage, die sich vermutlich nach einigen Wochen vielen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern stellt. Die Antwort müssen sie nicht allein finden: Ein "Starterpaket" mit ersten Informationen, danach wöchentliche Austauschabende, Diskussionsveranstaltungen zum "bedingungslosen Grundeinkommen", Stadtführungen mit Obdachloseninitiativen und Themen-Gottesdienste begleiten die Aktion. All das stößt auf ein überraschend großes Echo. Pastorinnen und Pastoren nehmen teil, soziale Berater, die einmal die andere Seite kennenlernen wollen, sogar ganze Familien sind dabei.

Wer schmuggelt die Tochter ins Kino?

"Ich habe schon geschluckt, als ich festgestellt habe, was das für uns bedeutet", erzählt Uschi Hoffmann, eine der Veranstalterinnen. Die Stadtteil-Diakonin hat sich trotzdem fest vorgenommen, kurz vor Beginn des Hartz-IV-Monats keine teuren Einkäufe zu hamstern. Sogar ihre 13-jährige Tochter macht begeistert mit und muss wohl für einen Monat aufs Kino verzichten. Es sei denn, ihre Cousine, die im Kino jobbt, schmuggelt sie gratis rein.

Eine Situation wie im richtigen Leben: "Man braucht dann eben ein soziales Netz", sagt Uschi Hoffmann. Immerhin: "Unsere Waschmaschine und unser Kühlschrank werden höchstwahrscheinlich im kommenden Monat nicht kaputtgehen. Von daher ist unser Versuch nicht ganz realistisch", räumt sie ein. "Wir erleben zum Beispiel auch nicht, wie es ist, bei einer Behörde einen Antrag zu stellen." Einen Arztbesuch jedenfalls will sie sich nach Möglichkeit verkneifen. Und wenn das nicht geht? "Dann wird’s richtig eng."

Die Aktion ging aus den Stadtteilen südlich der Elbe hervor, wo – wie etwa in Heimfeld – fast jeder Fünfte von "Transferzahlungen" lebt. Doch es gibt Überlegungen, 2011 ganz Hamburg einzubeziehen. Mitmachen darf schon jetzt jeder: Am Donnerstag, 25. Februar, findet ein weiterer Info-Abend für Interessierte statt.

Auch Thilo Sarrazin ist herzlich willkommen.


Thomas Östreicher ist freier Journalist in Hamburg und Frankfurt.