"Heilen, nicht nur reparieren": Spiritualität und Medizin
Die moderne Medizin hat auf fast alles eine Antwort - außer auf die Frage nach dem Sinn. Wenn Menschen krank werden oder sogar den Tod schon winken sehen, suchen sie aber häufig nach Antworten in einer spirituellen Dimension. Drei Seelsorger, die auf dieser Schnittstelle zwischen Medizin und Spiritualität und Religion arbeiten, tauschen ihre Gedanken dazu aus: Kirchenrat Peter Bertram (Referent für Seelsorge und Beratung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern), Dr. Thomas Hagen (Pastoralreferent, Fachreferent für Palliativ Care der Erzdiözese München und Freising) und Monsignore Siegfried Kneißl (Leiter des Fachbereichs Krankenhausseelsorge der Erzdiözese München und Freising). Ein spannendes, interkonfessionelles Gespräch über Spiritualität, religiösen Ritus und den Umgang mit menschlichem Leid.

Evangelisch.de: Bei Spiritus denken die einen an ein Reinigungsmittel, die anderen an den spiritus sanctus. Gleichzeitig ist Spiritualität ein Modebegriff in Managerschulungen oder der Medizin. Worum geht es da eigentlich? Hat das mit Religion überhaupt noch etwas zu tun?

Siegfried Kneißl: Man muss das im Zusammenhang sehen: In den vergangenen Jahren ist es zu einer riesigen Öffnung gekommen innerhalb der Religionen, der Konfessionen, auch der Katholischen und Evangelischen Kirchen untereinander – wir sind ja schließlich auch nicht mehr "Marktführer". Gut, wir sind noch immer große Anbieter, aber wir haben nicht mehr das Monopol, wenn es darum geht, den Sinn des Lebens zu deuten. Die Bindung an die großen Systeme bröckelt – egal, ob das Parteien, Gewerkschaften oder auch Kirchen sind. Gleichzeitig begegnen wir einem riesigen Interesse an spirituellen und religiösen Fragen und Antworten, die aber nicht mehr an die Kirchen gebunden sind.

Peter Bertram: Die Kirchen werden aber verstärkt nach Deutungen gefragt, wenn es um Entwicklungen in der modernen Medizin geht, die aufgrund ihrer Komplexität viele Fragen aufwerfen. Es gibt die eindeutige Erwartung, dass wir als christliche Kirchen etwas zu Sinnfragen sagen können, und es ist vielleicht nur natürlich, dass sich solche Fragen vor allem dann stellen, wenn eine Krise da ist - durch eine schwere Krankheit oder den bevorstehenden Tod. Die Hospizbewegung und die Palliativmedizin, also denjenigen, die sich mit dem Lebensende befassen, haben zu einem Wandel der Perspektive geführt: Der Patient wird nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt mit all seinen Bedürfnissen gesehen, über die reinen Symptome hinaus. Da kommen auch seine Glaubensvorstellungen zur Sprache, die Frage, was ihn trägt, wo seine stärkenden Kräfte liegen. Das hat den Begriff "Spiritualität" auf eine neue Weise thematisiert und uns als Kirchen herausgefordert, uns darüber klar zu werden, was wir selbst darunter verstehen. Da gibt es keine eindeutige Definition und darüber findet momentan ein intensiver Diskurs statt.

Thomas Hagen: Spiritus ist der Geist. Was ist dieser Geist? Früher fragte man sich: Ist der Mensch ein religiöses Wesen? Heute diskutiert man eher aus anthropologischer Sicht, was die spirituelle Dimension des Menschen ist. In der Medizin sehen wir, dass die spirituelle Dimension eine große Rolle spielt, wenn man den Menschen tatsächlich heilen will und nicht nur reparieren. Das spiegelt zum Beispiel die Definition der Weltgesundheitsbehörde wider: Gesundheit und Krankheit erfassen sämtliche Dimensionen des Menschen – auch die spirituelle. Spiritualität ist kein religionsspezifischer Begriff. Er ist konfessionsübergreifend.

"Medizin hat das Potential, sich selbst zu reformieren"

 

Evangelisch.de: Aber in der Praxis der Gerätemedizin wird doch nicht mal die Aussage des Patienten beachtet, geschweige denn seine seelische Befindlichkeit?

Hagen: Diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt es. Aber sie wird zusehends thematisiert, auch in der Medizin. Die Ärzte wissen, dass Befunde nicht den ganzen Menschen abbilden. Bei gleicher Datenlage stirbt der eine, der andere überlebt. Wir müssen Instrumente suchen, um mit dieser spirituellen Seite verantwortlich umzugehen.

Bertram: Früher hatte ein Arzt zum Beispiel die Biographie seiner Patienten, ihre Lebenswelt noch stärker im Blick. Das ist verloren gegangen. Aber die Mediziner spüren sehr wohl, dass ihr "technischer" Blick nicht weit genug reicht und das Bewusstsein dafür wächst, auch wenn es vielleicht noch nicht über die Palliativmedizin hinausreicht.

Hagen: Die Medizin hat das Potential, sich selbst zu reformieren, zum Beispiel in der Ausbildung: Heute weiß man, dass man Medizin letztlich nicht praktizieren kann, ohne Anthropologie, ohne Medizinethik - das sind alles Reflektionsprozesse des eigenen Tuns.

Bertram: Es gibt auch Klinikträger, die uns bitten, ihnen Orientierung zu geben, was das Menschenbild in ihren Versorgungskonzepten angeht. Sie wollen wissen, was von ihren Hochglanzbroschüren und Leitbildern wirklich beim Menschen ankommt – und fragen das die Kirchen.

Evangelisch.de: Müssen nicht auch die Kirchen dazu lernen? Wenn ich mich an die Debatte um die christlichen Patientenverfügungen erinnere, dann wurde darin ein Bild von natürlichen Vorgängen am Lebensende gezeichnet, das es in der Realität so gar nicht mehr gibt – im Angesicht der Hochleistungsmedizin.

Hagen: Es geht hier um einen Dialog zwischen Kirchen und Medizin. Das heißt ja nicht, dass einer den anderen überzeugt, sondern dass sich beide einander zuhören und gemeinsam etwas Neues entwickeln. Da geht es nicht um Ergebnisse, sondern um ein Ringen um Wahrheit. Denn bei den meisten ethischen Dilemmata am Lebensende haben wir einen Graubereich, bei dem Standardisierungen oder Dogmen nicht hilfreich sind.

Bertram: Den Kirchen wird an dieser Stelle noch sehr viel zugetraut. Wenn Sie Umfragen machen zu den Erwartungen der Menschen, so steht Seelsorge immer an erster Stelle. Wenn wir uns dabei mit den Fragen der Medizin, der Ärzte und Patienten konfrontieren, dann kommt vieles, was uns bisher selbstverständlich erschien, noch mal auf den Prüfstand. Wir haben die Chance, Neues zu entwickeln, das vielleicht tragfähiger ist als zum Beispiel überholte Rituale und trotzdem durch und durch christlich ist.

Kneißl: Früher ist ein Krankenhausseelsorger durch die Station gegangen und salbte und segnete und das war's. Heute werden wir von Menschen nachgefragt oder aufgesucht, die uns immer noch ein Riesenvertrauen schenken, obwohl sie sich häufig nicht mehr in einer bestimmten Konfession aufgehoben fühlen. Trotzdem sind wir für sie immer noch Repräsentanten des Heiligen. Das ist ein großer Anspruch an uns.

"Wo bleibt die Dimension nach oben? Wo ist Gott?"

 

Evangelisch.de: Was bedeutet diese Entwicklung für den kirchlichen Ritus? Passt der dann überhaupt noch?

Kneißl: Ich denke schon – denn wer bietet denn überhaupt noch Rituale an in dieser Gesellschaft? Das passende Ritual zu finden, zum Beispiel für eine Beerdigung, das ist meine Profession. Und häufig sind es die ganz einfachen Dinge, die immer noch tragen: ein Kreuz, eine Kerze, ein Segen.

Hagen: Ein Ritual kann nur nach außen wirken, wenn es von einer Überzeugung getragen wird. Der Kranke muss spüren, dass da ein Mensch zu ihm kommt, der aus einer bestimmten Überzeugung heraus handelt und sich in diese Situation wagt. Ich erlebe das täglich, dass mir die Kranken sehr viel Vertrauen schenken. Das bedeutet dann aber auch für mich: Ich kann kein Ritual feiern, das nicht mit meiner Person übereinstimmt. Es hilft mir also nicht, ein interkulturelles überkonfessionelles Ritual zu kreieren, weil es mich selbst nicht trägt. Ich kann also nur auf dem Boden meiner Konfession bleiben, dann aber durchaus mit Vertretern anderer Glaubensrichtungen darum ringen, dass man gemeinsam etwas formuliert, das aber eben aus mehreren Dimensionen entstanden ist.

Kneißl: So muss zum Beispiel allen klar sein: Eine Kerze ist mehr als nur Stearin und Docht. Sie symbolisiert eine andere Dimension.

Evangelisch.de: Was bedeutet jetzt aber die "Spiritualität"?

Hagen: Wir knüpfen zum Beispiel in besonderer Weise an die Biographie der Betroffenen an, um deren "Beheimatung" zu finden. Einer der Patienten, die ich aufsuchte, war besonders glücklich, einem promovierten Theologen zu begegnen, weil er, wie er sagte, mit mir Platon im altgriechischen Original lesen könnte – das hat mich schon ins Schwitzen gebracht! Er zeigte mir eine antike Münze, die er während eines Aufenthalts in Griechenland erworben hatte und aus dem Land geschmuggelt, um sie Zeit seines Lebens im Portemonnaie zu tragen. Sie bedeutete ihm viel. Ich legte sie ihm nach seinem Tod in seine Hand. Diese ganz bestimmte Spiritualität, die in der Katholischen Kirche zum Beispiel franziskanisch, jesuitisch und so weiter geprägt war, die weicht immer mehr einer unbestimmten Spiritualität, die biographisch bestimmt ist.

Bertram: Die muss ein Seelsorger erst einmal wahrnehmen, um nicht in die Beliebigkeit oder ein entleertes Ritual auszuweichen.

Kneißl: Wir berücksichtigen also sehr viel stärker als früher die individuellen Werte und Einstellungen und bringen diese mit Kompetenz und Glaubwürdigkeit in unsere Ritualpraxis ein.

Bertram: In der Evangelischen Kirche war die Krankenseelsorge früher sehr auf das Bibelwort und das Gebet ausgerichtet. Die Gegenbewegung ist jetzt sehr gesprächsorientiert, mit all dem Background der humanistischen Psychologie, wo kritische Stimmen fragen: Wo bleibt die Dimension nach oben? Wo ist Gott? Seelsorger heute brauchen neben einer pastoralpsycholgischen eine spirituelle Kompetenz.

"Manchmal können alle gemeinsam dem Patienten nicht helfen"

 

Evangelisch.de: Das ist unabhängig von der jeweiligen Religiösität der Patienten?

Bertram: Ich kenne viele Ärzte, die sich dezidiert vom christlichen Glauben distanzieren, und dennoch sagen: Wir brauchen die Seelsorger, weil uns die Patienten fragen stellen, die wir nicht beantworten können. Da geht es um Schuld, um Strafe, die Frage nach Sinn: Wo komme ich her? Wo will ich hin?

Evangelisch.de: Es gibt eine Diskussion darüber, ob man Spiritualität in die Ausbildung der Ärzte integrieren sollte. Kann der Arzt Seelsorger sein?

Hagen: Spirituell einen Patienten begleiten kann jeder Mensch, abhängig von seiner Sensibilität, egal ob Arzt, Schwester oder Reinigungskraft. Das aber zum Standard einer Berufsgruppe zu machen, halte ich für schwierig. Ich denke aber, man müsste schon in der Ausbildung die verschiedensten Berufsgruppe, die mit Medizin zu tun haben, lehren wahrzunehmen, was Spiritualität ausmacht, um zu erkennen, wann ein Patient Unterstützung für diese wichtige persönliche Ressource braucht. Dann kann er die Brücke zu einem Seelsorger herstellen. Einen Arzt zum Seelsorger zu machen, würde ihn überfordern.

Kneißl: Der Arzt ist für die Heilung zuständig. Das Heil ist eine eindeutig religiöse Dimension. Dies fällt in den Bereich der Seelsorge.

Hagen: Die Kunst ist, alle Dimensionen im Austausch mit anderen Berufsgruppen zu erfassen. Schmerz zum Beispiel ist häufig sowohl Ausdruck seelischer Qualen wie einer körperlichen Störung. Keine davon darf man vernachlässigen, wenn man ihn lindern will.

Bertram: Ob das dann gelingt, ist eine andere Sache. Aber fest steht, dass nicht ein Einzelner die ganze Wahrheit hat. Manchmal können alle gemeinsam dem Patienten nicht helfen – es ist nicht jedes Sterben ein gutes Sterben. Da hat die Palliativ- und Hospizbewegung zu viele Illusionen, und manchmal tappt sie in dieselbe Falle wie der Rest der Medizin: Man will immer noch etwas machen, handeln, agieren. Aber vieles muss man einfach aushalten in dieser Situation, auch wenn es schwer fällt.

Hagen: Aber wir dürfen uns nicht ersparen, um eine Lösung zu ringen. Das halte ich für ein ganz großes Qualitätsmerkmal in einem medizinischen Team: Dass es immer wieder mit sich ringt und keine Muster hat. Diese Haltung läuft quer zu den Tendenzen der Medizin, alles standardisieren und operationalisieren zu wollen. Wir brauchen einen Raum, der uns erlaubt zu diskutieren: Nützt diese Therapie dem Patienten noch oder schadet sie ihm?

Bertram: Ich war in meinem Erstberuf Rettungsassistent und habe in dieser Zeit den Tod an vielen Un-Orten erlebt – in der Toilette auf der Straße, völlig unbegleitet, zur Un-Zeit. Die Abschiedsräume in Palliativstationen und Hospizen ermöglichen Gott sei Dank einen Abschied in Würde. Doch wir sollten darüber nicht vergessen, dass "der Tod ein Stachel ist", wie Paulus sagt. Eine scmerzhafte Herausforderung.

"Nach dem Karfreitag kommt nicht gleich der Ostermorgen"

 

Evangelisch.de: In München hat die Ludwig-Maximilians-Universität eine Professur für "Spiritual Care" ausgeschrieben, eine weltweit einzigartige Initiative, die von beiden theologischen Fakultäten mitgetragen wird. Was ist das Ziel?

Hagen: Das ist ein wissenschaftlicher Bereich, der sich nicht auf Krankenseelsorge beschränkt, sondern auch darüber hinaus erforschen soll, welche Ressourcen im spirituellen Bereich in den Blick zu nehmen sind. Da stellt sich die Frage, wie man das erforschen kann – mit Interviews, mit Analysen, mit Fragebögen. Es gibt bereits Lebenssinn-Forschung, die man integrieren kann. Die LMU unterrichtet und prüft auch schon seit fünf Jahren Spiritualität bei Medizinstudenten. Lehren wir das Richtige? Die Idee bei dieser Professur war, sie so weit wie möglich zu gestalten und dabei insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Kneißl: Die Professur wird von uns inhaltlich befürwortet, aber sonst haben die Kirchen nichts damit zu tun. Darauf kann sich auch ein Moslem bewerben, ein Hindu oder ein Buddhist.

Hagen: Bei einer Umfrage unter palliativen Pflegediensten wurde gefragt, was für Erwartungen an die Seelsorge gerichtet wurden. Dabei wurde nicht nur deutlich, dass in zwei Dritteln aller Einrichtungen Seelsorger einbezogen sind, was ich eine erstaunlich große Zahl fand, sondern auch, dass gerade das theologisch reflektierte Handeln sehr stark gewünscht wurde, gefolgt von der Fähigkeit, Krankheit und Leid, Tod religiös zu begreifen und zu kommunizieren. Das rituelle Handeln kam erstaunlicherweise erst nach diesen Kompetenzen. Grundsätzlich geht es um die Fähigkeit, Fragen auszuhalten, Klagen auszuhalten, es zu ertragen, nicht gleich Antworten zu haben.

Kneißl: Wir müssen lernen, dass nach dem Karfreitag nicht gleich der Ostermorgen kommt. Da ist noch der Samstag dazwischen. Und der hat seine Zeit und kann lange sein. Wir sind oft zu schnell im Umgang mit dem Leid.

Evangelisch.de: Bräuchten wir nicht eine neue Form der Altenseelsorge? Da stellt sich die Sinnfrage nicht in einer akuten Krise, sondern in Etappen: Es wird immer mehr Menschen geben, die vor einem langen Prozess des geistigen und körperlichen Verfalls verzweifeln. Es gibt Menschen, die schon jetzt nach der Möglichkeit der Euthanasie rufen.

Kneißl: Früher hat sich die Kirche um die Alten nicht vorrangig gekümmert, das ändert sich gerade. Die Caritas hat gerade ein großes Forschungsprojekt begonnen, das Wege des Umgangr mit dem Lebensende in katholischen Alten- und Pflegeheimen betrifft.

Bertram: Die Evangelische Kirche widmet vor allem der Altenpflege und der Seelsorge in den Altenpflegeheimen große Aufmerksamkeit, vor allem in der Arbeit der Diakone. Doch angesichts der großen Zahlen pflegebedürftiger Menschen, glaube ich, müssen wir realistisch sein: Es kann nicht jeder alte Mensch von einem multiprofessionellen Team, darunter auch einem Seelsorger, betreut werden. Das schaffen wir einfach nicht – so wichtig es wäre.


Kirchenrat Peter Bertram ist Referent für Seelsorge und Beratung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Pastoralreferent Dr. Thomas Hagen ist Fachreferent für Palliative Care der Erzdiözese München und Freising.

Monsignore Siegfried Kneißl ist der Leiter des Fachbereichs Krankenhausseelsorge der Erzdiözese München und Freising.

Dr. Petra Thorbrietz ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin. Sie schreibt unter anderem für evangelisch.de und hat das Gespräch moderiert und aufgeschrieben.