Wirbel um Westerwelles Kritik an der Hartz-IV-Debatte
FDP-Chef und Außenminister Guido Westerwelle hat seine Meinung bekräftigt, die Debatte um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV trage "sozialistische Züge". Dafür hagelte es Kritik, nicht nur vom politischen Kontrahenten, sondern auch aus der eigenen Partei. Der Außenminister ließ sich aber nicht beirren. Derweil streitet die Poltitik, welche Folgen das Urteil haben sollte.

"Die Diskussion über das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat sozialistische Züge. Von meiner Kommentierung dieser Debatte habe ich keine Silbe zurückzunehmen", sagte Westerwelle der "Passauer Neuen Presse". "Wenn man in Deutschland schon dafür angegriffen wird, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet, dann ist das geistiger Sozialismus", erklärte er. Die wütenden Reaktionen aus dem linken Lager zeigten doch, dass er den Finger in die Wunde gelegt habe.

Westerwelle hatte nach dem Urteil gesagt: "Wie in einem pawlowschen Reflex wird gerufen, jetzt könne es erst recht keine Entlastung der Bürger mehr geben, das Geld brauche man für höhere Hartz-IV-Sätze." Weiter sagte Westerwelle, wer "anstrengungslosen Wohlstand" verspreche, lade zu "spätrömischer Dekadenz ein". Man solle die Leistungen des Steuerzahlers in den Mittelpunkt rücken statt über die Frage höherer staatliche Leistungen zu diskutieren.

"Westerwelle lässt die Maske fallen"

Heftige Kritik an den Äußerungen des FDP-Chefs kam von der Opposition und Gewerkschaften. "Jetzt lässt Guido Westerwelle die Maske fallen", sagte Verdi-Chef Frank Bsirske der "Passauer Neuen Presse". Sozialleistungen seien keine Gnadengabe, sondern Verpflichtung eines demokratischen Rechtsstaats, der die Menschenwürde garantiert. Auch Grünen-Fraktionschefin Renate Künast kritisierte Westerwelle. "Wenn er in Zusammenhang mit Hartz IV von spätrömischer Dekadenz spricht, beleidigt Herr Westerwelle Millionen Langzeitarbeitslose in Deutschland", sagte sie der Zeitung.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, sagte den Dortmunder "Ruhr Nachrichten": "Es ist für einen Vizekanzler unangemessen, Millionen von Hartz-IV-Beziehern so zu diffamieren." Auch vom politischen Gegner kamen reichlich Gegenstimmen. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) forderte Westerwelle auf, sich bei Hartz-IV-Empfängern zu entschuldigen. Seine Äußerungen zum Hartz-IV-Urteil seien "empörend", sagte Beck in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner". Und SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) müsse den Vizekanzler in die Schranken weisen. Gabriel sagte über das Urteil auf "Spiegel online": "Wir müssen mit Sicherheit mehr für Kinder tun, das ist klar. Die Sätze müssen jetzt neu berechnet werden - und wenn man da zum Ergebnis kommt, dass sie erhöht werden müssen, dann ist es so."

Geld oder Sachleistungen?

Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) schloss bei "Maybrit Illner" höhere Kosten für den Staat durch das Urteil nicht aus. Diese könnten vor allem dadurch entstehen, dass der Richterspruch den Berechnungsmodus der Hartz-IV-Sätze für Kinder infrage stelle. "Das kann die Sache teurer machen und das ist dann auch richtig", sagte sie. Allerdings müsse das nicht unbedingt über Bargeld geschehen. Das Bundesverfassungsgericht habe "sehr deutlich gesagt, dass wir bei Bildung auch Sachleistungen und Dienstleistungen anbieten können", sagte von der Leyen der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung".

Sachleistungen sind allerdings umstritten, insbesondere bei der CSU. Deren Chef und bayrischer Ministerpräsident Horst Seehofer nannte in der "Süddeutschen Zeitung" die Diskussion über Sachleistungen "abenteuerlich" und forderte Zahlungen für einmalige Anschaffungen, wie Waschmaschinen. Außerdem sollten die Regelsätze an die regional unterschiedlich hohen Lebenshaltungskosten angepasst werden. Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) sprach sich allerdings dafür aus, statt reiner Geldleistungen alle Bildungsangebote für Kinder umsonst anzubieten.

Gysi und Hirsch sind zufrieden mit dem Urteil

Auf mehr Bildung zielte auch Gregor Gysi ab, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag. Gysi sagte der "Berliner Zeitung", er sei sehr zufrieden, dass das Gericht auf die Teilhabe hingewiesen habe. "Das heißt eben auch: Wie kommen die betroffenen Erwachsenen und Kinder an Bücher, an CDs, wie können sie ins Kino oder ins Theater gehen?" Davon hänge auch das Bildungsniveau ab, sagte Gysi, "und nicht davon, ob ein Kind mal kostenlos einen Zirkel bekommt, wie Frau von der Leyen das wohl vorschwebt." Die Linke kritisierte Westerwelles Äußerungen außerdem als "geistig politische Verblödung".

Mehr Kritik für Westerwelle gab es auch aus den eigenen Reihen. Der frühere nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirsch widersprach dem FDP-Chef deutlich: "Das Urteil verdient volle Zustimmung", sagte der Alt-Liberale den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe. Die FDP dürfe "nicht den Eindruck erwecken, dass sie die sozialen Probleme der Menschen für zweitrangig hält", so Hirsch.

Richterin erwartet Klagewelle

Die Präsidentin des Sozialgerichtstages, Monika Paulat, glaubt, dass die Bundesregierung die Folgen des Urteils unterschätzt: "Die Aufgabe ist gewaltig", sagte die Richterin "stern.de". Sie habe sich "schon gefragt, ob es bis Ende des Jahres überhaupt zu schaffen ist". Höhere Regelsätze sind nach Ansicht Paulats wahrscheinlich: "Bei Kindern wird der Gesetzgeber wohl nicht drum herum kommen, die Leistungen nach oben anzupassen."

Die Gerichtspräsidentin rechnet auch mit einer weiteren Klagewelle von Hartz-IV-Empfängern: "Ich bin überzeugt, dass es durch die neue Härtefallregelung mehr Klagen geben wird", sagt sie. "Die Leute werden vor den Türen der Leistungsträger und der Sozialgerichte Schlange stehen." Einer Anrechnung von Sachleistungen auf die Hartz-IV-Regelsätze steht die Richterin skeptisch gegenüber: "Mit Sicherheit wäre der bürokratische Aufwand enorm", sagte sie.

dpa/epd