Gegen ein Leben ohne Ziel und Perspektive
Wenn man über Armut spricht, geht es nicht nur um Geld. Soziale und geistige Verarmung sind ein noch viel größeres Problem als nur der Mangel an Geld. Kinder, die ohne vernünftige Sprachkenntnisse aufwachsen, ohne die Möglichkeit, ihre Welt selbst zu entdecken, ohne eine häusliche Umgebung, die sie ständig lernen lässt - solche Kinder sind von Anfang an chancenlos. Die Fröbel-Schule in Bochum-Wattenscheid versucht, solche Kinder aufzufangen, mit wechselndem Erfolg.
11.02.2010
Von Marlene Grund

Die Aufgabe hätte auch für einen Förderschüler lösbar sein müssen. Im Mathematikunterricht für Achtjährige stehen zwei Gläser auf dem Tisch, beide gleich hoch mit unterschiedlich gefärbtem Wasser gefüllt. Der Lehrer schiebt ein Glas näher an das Kind und fragt: "Was glaubst du, gibt es jetzt immer noch gleich viel rotes wie blaues Wasser?" Viele seiner Schüler scheiterten an dieser Frage, sagt Christoph Graffweg, Leiter der Fröbelschule in Wattenscheid.

"Das war zunächst ein Schock", bekennt Graffweg. Mit seinem üblichen Rüstzeug als Mathematiklehrer kann er nichts mehr anfangen, weil ein Großteil der Schüler nicht in der Lage ist, mit Begriffen wie "gleich", "weniger" oder "mehr" umzugehen. Der 55 Jahre alte Pädagoge hat in der Förderschule, die früher einmal Sonderschule hieß, einen Lehrgang entwickelt, der in den ersten beiden Schuljahren völlig ohne Zahlen auskommt. Damit die Kinder das nachholen, was sie eigentlich schon im Elternhaus und in der Vorschule hätten lernen müssen.

Am trostlosen Ausblick ändert auch kein Urteil etwas

Bundesweit bekannt wurde Graffweg durch sein Bekenntnis, er sehe sich gezwungen, die Kinder seiner Schule auf eine Hartz-IV-Laufbahn vorbereiten zu müssen. Auf ein Leben ohne Ausbildung und Arbeit. Auf ein Leben, wie es der Großteil ihrer Eltern schon führt. An dieser Situation werde auch das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Nachbesserungen bei Hartz IV verlangt, nichts ändern. "Sicher, die Leute können mehr Geld brauchen", sagt Graffweg. Doch um Kindern wirklich aus der Sprach- und Hoffnungslosigkeit zu helfen, müsse mehr getan werden, als Regelsätze aufzustocken oder Bildungsgutscheine auszugeben.

"Wir brauchen kostenlose Bildung für alle Kinder", fordert der Schulleiter. Das müsse bei gebührenfreien Kitas anfangen, bei kostenlosen Lernmaterialien, Frühstück und Mittagessen in der Schule. Klassenfahrten dürften nicht an Geldmangel scheitern. "Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein", so der Pädagoge.

Die Schule bietet das, was sie bundesweit als "Hartz-IV-Schule" bekanntmachte: Unterricht zur Vorbereitung auf ein Leben mit wenig Geld. Die Schüler lernen, wie groß und wie teuer eine Wohnung nach Hartz IV sein darf, wie viel Geld zum Einkauf bleibt, wo es Freizeitangebote gibt, die nichts kosten.

Trotz Erfolgen ist die Bilanz verhalten

Einem drohenden Leben ohne Perspektive und Ziele, ohne Anstrengung und Weiterentwicklung möchte die Fröbelschule Lösungsmöglichkeiten entgegenstellen, sagt Graffweg. Dazu gehören Nachmittags- und Hausaufgabenbetreuung, ein kostenloses Frühstück und ein tägliches Mittagessen zum Preis von 20 Euro im Monat.

Die Kinder können Instrumente lernen und eine Schulbücherei besuchen, "die eine größere Besucher- und Ausleihzahl hat als unsere Stadtteilbibliothek". Es gibt eine Elternschule, in der Eltern vermittelt wird, was es heißt, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Besonders erfolgreich ist Graffweg zufolge ein Mentorenprojekt zur beruflichen Integration, in dem sich Ehrenamtliche engagieren.

Trotz vieler Erfolge ist Graffwegs Bilanz verhalten. Die Anstrengungen reichten nicht aus, sagt er ohne jede Resignation. In jedem Jahr werden etwa fünf der 130 Kinder der Schule vom Jugendamt in Obhut genommen, müssen etwa acht Prozent der Schüler für mehrere Wochen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Geistig-seelische Verarmung

Im Laufe seines Berufslebens hat Graffweg bei den in materieller Armut lebenden Schülern auch eine Verarmung der intellektuellen und geistig-seelischen Entwicklung registriert. "Zwischen den Leistungen der Kinder zu Beginn der 80er Jahre und heute liegen riesige Unterschiede", sagt er. Wer damals die Sonderschule besuchte, würde heute ohne Probleme auf einer Hauptschule klar kommen.

Graffweg macht vor allem zwei Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich: das Privatfernsehen und die Überforderung der Eltern mit der Erziehung. Längst habe das Fernsehen einen dominanten Raum im Leben von Kindern eingenommen, selbst bei Kleinkindern. Durch die Überflutung mit immer neuen Inhalten gebe es keine Chance, dass sich etwas über Wiederholung festsetze - wie etwa beim von Kindern geliebten ständigen Vorlesen der immer gleichen Bücher. "Nichts bleibt haften", beklagt Graffweg.

"Heutige Lösungen sind nicht mehr tragfähig"

Gleichzeitig beobachtet er Eltern, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen. "Sie lassen sich von ihren neunjährigen Kindern dominieren", stellt er erbittert fest. Die Kinder entscheiden selbst, ob sie morgens aufstehen und zur Schule gehen wollen, wann und wie viel sie fernsehen.

Vor kurzem, sagt Graffweg, hätten die Ärzte des Gesundheitsamtes Bochum erklärt, noch nie seien so viele Kinder bei den Einschulungsuntersuchungen schulunfähig gewesen. "Das lässt vermuten, dass unsere heutigen Lösungen morgen nicht mehr tragfähig sind." An der Fröbelschule wird schon heute nach neuen Lösungen gesucht.

epd