Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte am Dienstag eine zügige Umsetzung der Gerichtsentscheidung an. Sozialverbände, Gewerkschaften und Kirchen werteten den Karlsruher Richterspruch als Erfolg im Kampf gegen Kinderarmut. Erwartet wird nun vor allem eine Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen für Unter-14-Jährige.
Von der Leyen sprach von einem "bahnbrechenden Urteil". Der Gesetzgeber müsse jetzt unter einem "ungeheuren Zeitdruck" die Regelungen gesetzlich nachbessern, sagte sie kurz nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Die Ministerin wertete das Urteil als großen Sieg für die Bildung der Kinder. Die Sozialleistungen müssten aus ihrer Sicht nicht unbedingt durch Geldzahlungen erhöht werden. Das könnte auch durch Sachleistungen für Schulmaterial oder Nachhilfe erfolgen.
Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts müssen die staatlichen Leistungen für die 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger in Deutschland bis Ende des Jahres grundlegend neu berechnet werden. Insbesondere monierten die Richter, dass Leistungen für Kinder nicht eigenständig ermittelt, sondern aus den Regelsätzen für Erwachsene abgeleitet werden.
Kläger nennen das Urteil einen "Etappensieg"
Nach den Worten von Bundesfamilienministerin Kristina Köhler (CDU) zieht die Entscheidung auch Konsequenzen für Kindergeld und Kinderzuschlag nach sich. Der Kinderzuschlag für Geringverdiener müsse ausgeweitet und die Unterstützung für Alleinerziehende verbessert werden. Die Diskussion über das Existenzminimum für Kinder dürfe den Blick nicht auf Familien verengen, die auf Hartz IV angewiesen seien. Auch wer keine Transferleistungen vom Staat bekommt, müsse unterstützt werden, sagte Köhler: "Wir dürfen nicht diejenigen bestrafen, die Verantwortung für Kinder übernehmen und hart für den Unterhalt der Familie arbeiten." Wer arbeite, müsse mehr Geld haben als diejenigen, die nicht arbeiteten, erklärte Köhler.
Thomas Kallay, einer der Kläger, bezeichnete das Urteil als Etappensieg. Allerdings dürfe das Kindergeld nicht weiter auf die Hartz-IV-Sätze angerechnet werden. Das sei sozial ungerecht, sagte Kallay. Er werde das Urteil studieren und dann "wenn es mir nicht vernünftig erscheint, geht's vor den Europäischen Gerichtshof - ich habe kein Problem damit".
Unterschiedlich bewerten die Bundestagsparteien die Kosten, die sich aus der Umsetzung des Urteils ergeben. Die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger sagte, die Koalition werde eine Reform auf den Weg bringen müssen. Allerdings werde diese keine so weitreichenden finanzielle Auswirkungen haben wie befürchtet. CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich hob hingegen hervor: "Bei Kindern und Jugendlichen werden wir drauflegen müssen." Der Spielraum für andere politische Projekte werde kleiner, da Hartz IV teuer werde.
CDU wiegelt ab, SPD sieht den Mindestlohn am Horizont
Andere Stimmen aus der CDU bezweifelten, dass der Staat nach dem Urteil mehr Geld ausgeben muss. Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte: "Ob die Hartz-IV- Sätze jetzt steigen, lässt sich nicht sagen." Es könne sogar zu Reduzierungen kommen. Unions-Haushaltsexperte Norbert Barthle (CDU) unterstützte diese Position: "Ob das unterm Strich dann mehr sein muss, das ist für mich noch nicht ausgemacht."
Die Linkspartei sieht sich in ihrer Kritik an Hartz IV bestätigt. Der künftige Parteichef Klaus Ernst sagte, es werde "eine deutliche Anhebung der Kinder-Regelsätze notwendig" werden. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, sprach von zehn Milliarden Euro zusätzlicher Kosten. Der SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier erklärte, das Urteil sei nicht unerwartet gekommen. Die Frist, in der der Gesetzgeber die Vorgaben umsetzen müsse, sei allerdings "zeitlich anspruchsvoll". Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, ging noch weiter und betonte, nach dem Urteil müsse es mehr Geld für Langzeitarbeitslose geben - und ein Mindestlohn müsse eingeführt werden. Es könne nicht sein, dass jemand ohne Arbeit mehr Geld bekomme als jemand, der den ganzen Tag arbeite.
Die Kommunal-Verbände verwiesen darauf, dass die Neuregelung nicht automatisch zu höheren Sätzen führe. Das "Lohnabstandsgebot" müsse beachtet werden. Forderungen nach einer Anhebung der Regelsätze um bis zu 30 Prozent lehnen sie ab. Der Arbeitgeberverband BDA warnte, an das Urteil falsche Erwartungen oder unangemessene Forderungen zu knüpfen.
"Guter Tag für Kinder und Familien in Deutschland"
Als schallende Ohrfeige für die Bundesregierung bezeichnete der Paritätische Wohlfahrtsverband das Urteil. Eine "ehrliche, sachgerechte und transparente" Herleitung der Regelsätze aus der Einkommens- und Verbrauchsstatistik wird nach Ansicht des Verbandes zu deutlich höheren Regelsätzen führen. Die derzeitigen Regelsätze beinhalteten nicht einmal Ausgaben für Bildung oder für Windeln.
"Die vom Grundgesetz garantierte Existenzsicherung ist nicht verwirklicht", erklärte Diakonie-Präsident Klaus-Dieter Kottnik. Jetzt müsse der Gesetzgeber schnellstmöglich handeln. Caritas-Präsident Peter Neher erklärte: "Im Kampf gegen Kinderarmut wurde heute eine richtige und wichtige Entscheidung getroffen." DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach von einem "guten Tag für die Kinder und Familien in Deutschland".
Auch die katholische Deutsche Bischofskonferenz begrüßte das Urteil. Besonders wichtig sei, dass der Bedarf für Kinder künftig nach dem tatsächlichen Bedarf errechnet werden müsse, sagte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, "Denn dies ist der Schlüssel, um Chancengerechtigkeit zu ermöglichen und der Verfestigung von Armut entgegenzuwirken."
Der braunschweigische evangelische Landesbischof Friedrich Weber erklärte, die Karlsruher Richter zeigten "einen guten Weg" auf. Gerade die gesellschaftliche Teilhabe der Kinder sei in letzter Zeit immer wieder von den Kirchen gefordert worden.