Alltägliche Armut nicht einfach so hinnehmen
Verfassungswidrig also. Was die meisten Deutschen schon instinktiv gefühlt haben, hat das Verfassungsgericht nun bestätigt: Die Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig - für die meisten Menschen heißt das: Sie sind zu niedrig. Ein "menschenwürdiges Existenzminimum" wird durch die aktuelle Gesetzgebung nicht gewährleistet, stellte das Bundesverfassungsgericht fest. Insbesondere der geringere Satz für Kinder müsse an die Realität angepasst werden. Aber das reicht nicht. Wir müssen alle mitmachen im Kampf gegen die Armut.
09.02.2010
Von Hanno Terbuyken

"Fördern und Fordern", mit dieser Forderung war Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) angetreten, die Sozialsysteme zu reformieren. VW-Vorstand Peter Hartz sollte in der Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" dafür sorgen, dass dieses Prinzip auch auf dem Arbeitsmarkt durchgesetzt wird. Es war Teil von Schröders umstrittener "Agenda 2010".

Konsens: Hartz IV ist scheiße

Jetzt ist 2010. Nach fast zehn Jahren und zwei Regierungswechseln ist in den Köpfen der Menschen vor allem eins hängen geblieben: "Hartz IV ist scheiße." Das mit dem Fördern klappt nicht so richtig und gefordert wird von den Menschen vor allem, sich den Fußballverein für den Sohn vom Munde abzusparen. Das ist einer der großen Kritikpunkte, die die Karlsruher Richter formulierten: eine "Mindestteilnahme am gesellschaftlichen Leben" muss möglich sein. Es ist ein gutes Signal, das die obersten Richter hier senden – Leben ist eben nicht nur Essen, Schlafen und Fernsehen, dessen Nachmittagsprogramm auf der Straße kaum noch ironisch "Hartz-IV-TV" heißt.

Leben heißt: Hinausgehen in die Welt und mit anderen gemeinsam erleben, wie schön das Dasein ist. Braucht man dafür unbedingt Geld? Es gibt viele Möglichkeiten, sich ehrenamtlich einzubringen, zum Beispiel in der Gemeinde – auch das kann ein Lebensinhalt sein. Aber es  ist eine Tatsache, dass unsere Gesellschaft eine Konsumgesellschaft ist, das hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt. Und diese Wahrheit betrifft ganz besonders diejenigen, die kein Geld übrig haben.

Bedürftigkeit ist ein Stigma

Denn Bedürftigkeit ist in einer Gesellschaft wie unserer, die individuellen Erfolg meistens an wirtschaftlichem Erfolg misst, ein soziales Stigma. Viele Menschen empfinden es als degradierend, ihr Essen bei den Tafeln holen zu müssen. Kinder kommen mit Tränen in den Augen aus der Schule oder dem Sportverein, weil sie dort ausgelacht werden, wenn sie die falschen Klamotten tragen – oder immer wieder die gleichen.

Menschenwürde sieht anders aus. Da hat das Bundesverfassungsgericht völlig recht. Sicher wird der Auftrag des Gerichts Milliarden kosten. Die Wirtschaftskrise, die immer noch nicht ausgestanden ist, macht diese Last nicht leichter. Und gleichzeitig steht das Wahlversprechen "Mehr netto vom brutto" hinter der schwarz-gelben Regierung wie ein ungezügeltes Schreckgespenst der kommenden Wählerungunst.

Wie also weiter?

Aber die Solidarität mit den Bedürftigen ist ein Gebot der Nächstenliebe, selbst wenn die für viele Steuerzahler am eigenen Geldbeutel endet. Darum müssen wir selbst fordern und fördern: Diejenigen fördern, die es brauchen, durch Geld, Ehrenamt, Bildung und Integration. Und gleichzeitig fordern, dass wir damit nicht alleine stehen, eine Forderung, die sich an den Nachbarn ebenso wie an den Politiker richtet.

Fast sieben Millionen Menschen unter dem "menschenwürdigen Existenzminimum" in diesem Land können wir nicht einfach so hinnehmen. Dem Urteil aus Karlsruhe müssen Taten folgen, von jedem einzelnen. Denn Menschenwürde entsteht nicht durch Geld, sondern im Alltag. Und für den sind wir Bürger verantwortlich, nicht die Politik und auch nicht das Gericht.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".