Kirche und Sexualität: ein ökumenisches Thema
Der katholische Zwangszölibat fördert die Gefahr sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendliche. Das zeigt der jüngste Skandal an deutschen Jesuitengymnasien. Doch die evangelische Kirche hat wenig Grund, sich aufs hohe Ross zu schwingen, so der in Wien lehrende Theologe Ulrich H. J. Körtner - und verweist unter anderem darauf, dass die letzte EKD-Denkschrift zur Sexualmoral bereits fast vier Jahrzehnte alt ist.
09.02.2010
Von Ulrich H. J. Körtner

Zuerst die Missbrauchsfälle in den USA, Australien und Irland, jetzt die Fälle von sexuellem Missbrauch im Berliner Canisius-Kolleg: Einmal mehr wird über den Zusammenhang von verdrängter Sexualität, sexuellem Missbrauch und seiner Vertuschung in der katholischen Kirche debattiert. Dass sich die katholische Kirche anders in der Vergangenheit selbst um ernsthafte Aufklärung bemüht, verdient Respekt. Dieses Mal sind es nicht nur kirchliche Außenseiter wie die streitbare Theologieprofessorin Uta Ranke-Heinemann, sondern leitende kirchliche Verantwortliche wie der Jesuitenpater Klaus Mertes, Rektor des Canisius-Kollegs, die in die Offensive gehen.

Mit schonungsloser Aufklärung, umfassender Entschuldigung und Wiedergutmachung für die Missbrauchsopfer ist es sicher nicht getan. So lange der Zwangszölibat, für den es keine biblische Legitimation gibt, nicht fällt, wird die römische Kirche letztlich immer nur an Symptomen herumkurieren. Die individuelle und strukturelle Unterdrückung der Sexualität von Priestern und Ordensleuten begünstigt schließlich nicht nur sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche, sondern auch menschliche Tragödien unter homosexuellen Geistlichen wie unter Heterosexuellen, mehr oder weniger heimliche Konkubinate, bei denen Frauen und ihre Kinder, die sie gemeinsam mit einem Priester haben, zu Opfern werden.

Unterdrückung, nicht Verdrängung

Die Unterdrückung der Sexualität – man sollte nicht bloß von Verdrängung sprechen – fördert ein System von Überwachung und Strafe, von Misstrauen und Denunziation, Verdächtigungen und Angst, von Schuld und Schuldgefühlen, Abhängigkeit und Erpressbarkeit. Die ehrenwerte Forderung nach mehr Transparenz und effektiverer Kontrolle, nach konsequenter Ahndung von sexuellen Straftaten und innerkirchlichen Sanktionen gegen Priester, die des Missbrauchs überführt werden, zeigt doch nur, welches gesteigerte Maß an Energien zur Unterdrückung menschlicher Sexualität aufgewendet werden muss, wenn kirchliche Lehre und Praxis in der Zölibatsfrage in Einklang gebracht werden sollen.

Die Reformation hat aus guten biblischen Gründen einen anderen Weg beschritten und den Zölibat - den es für Bischöfe auch in den orthodoxen Kirchen gibt - verworfen. Nichts wäre jedoch unangebrachter, als wenn sich die evangelische Kirche gegenüber der römischen Schwesterkirche aufs hohe Ross schwingen würde. Jeder kehre vor seiner eigenen Tür. In einem 2006 gehaltenen Vortrag erklärte der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, unterschiedliche Akzente der Kirchen in Fragen der Sexualmoral gehörten zur neuen "Ökumene der Profile". Er sprach die grundsätzliche Wertung menschlicher Sexualität, die Mittel der Empfängnisverhütung, die gesetzlich vorgesehene Beratung im Fall von Schwangerschaftskonflikten und den Umgang mit dem Thema der Homosexualität an.

Vikarinnen zu Ehelosigkeit verpflichtet

Es ist freilich erst einige Jahrzehnte her, dass die meisten protestantischen Kirchen die Frauenordination eingeführt haben. Anfangs wurden Frauen nur als Vikarinnen zugelassen – und wurden zur Ehelosigkeit verpflichtet. Einige Mitgliedskirchen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) lehnen bis heute die Frauenordination ab. Wie man mit Homosexualität im Allgemeinen und bekennenden Homosexuellen in Pfarr- oder Bischofsamt umgehen soll, ist nach wie vor unter protestantischen Kirchen umstritten. Auch durch die anglikanische Kirchengemeinschaft geht in diesen Fragen ein tiefer Riss. Überhaupt ist eine repressive Sexualmoral kein katholisches Monopol, sondern auch aus der evangelischen Tradition und evangelischen Pfarrhäusern bekannt.

Schnell ist der pauschalisierende Vorwurf der Sexual- oder Leibfeindlichkeit gegenüber dem Christentum im Allgemeinen und der Kirchen im Besonderen bei der Hand. Doch was wäre denn das Gegenteil? Was hat man sich unter einer "leibfreundlichen" Sexualmoral vorzustellen? Welche sexualethische Orientierung wollen und können die Kirchen einer Gesellschaft geben, deren Problem längst nicht mehr die Unterdrückung der Sexualität ist, sondern im Gegenteil die "Tyrannei der Lust", die der französische Schriftsteller Jean-Claude Guillebaud in seinem gleichnamigen Buch scharfsinnig analysiert – bis hin zu Formen sexueller Verwahrlosung unter heutigen Jugendlichen und Erwachsenen?

Grundlegende Debatte führen

Die letzte Denkschrift der EKD zu Fragen der Sexualmoral stammt aus dem Jahr 1971. Sie ist also sage und schreibe fast vierzig Jahre alt! Seither hat es zwar mehrere Denkschriften und Orientierungshilfen zu Ehe, Familie und Homosexualität gegeben. Eine grundlegende Debatte über eine zeitgemäße evangelische Sexualethik steht jedoch aus. Wäre das nicht eine sinnvolle Aufgabe für den neuen Rat der EKD?


 

Prof. Dr. Ulrich H. J. Körtner ist seit 1992 Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zuvor war er unter anderem Gemeindepfarrer in Bielefeld sowie Studienleiter an der Evangelischen Akademie Iserlohn.