Von 132 Euro leben: Polarisierende Polemik um Hartz IV
Den Namen Friedrich Thießen muss man sich nicht merken. Doch so mancher Hartz-IV-Empfänger hat den Professor für Wirtschaftswissenschaften an der TU Chemnitz in böser Erinnerung. Er kam vor zwei Jahren zu der Erkenntnis: 132 Euro reichen als soziale Mindestsicherung für Langzeitarbeitslose aus.
08.02.2010
Von Dirk Baas

Der Sturm der Empörung über Thießens Polemik war heftig, aber nur von kurzer Dauer. Dagegen hält sich das Klischee, Langzeitarbeitslose machten sich auf Kosten der Allgemeinheit ein sorgenfreies Leben, hartnäckig. Die Liste unrühmlicher Attacken gegen Arbeitslose ist lang.

Hartz-IV-Empfänger Jürgen bringt es am 5. September 2008 im Internet-Blog auf den Punkt: "Da geht mir der Hut hoch, wenn ich so einen Scheiß lese. Der Herr Professor Thießen und der Rest der Herren Forscher waren wohl noch nie einkaufen! Die Wahrheit ist, dass man mit Hartz IV nicht mehr lebt, sondern vegetiert und sich an manchen Tagen am liebsten aufhängen würde."

Ein Euro für Freizeit, Unterhaltung und Kultur - pro Monat

Thießen hatte gemeinsam mit dem Diplom-Kaufmann Christian Fischer in der "Zeitschrift für Wirtschaftspolitik" einen Artikel veröffentlicht, in dem die Forscher zu dem Schluss kamen, dass "die Leistungen der sozialen Mindestsicherung [?] weit oberhalb des physischen Existenzminimums" lägen. Maximal gerechtfertigt wären 278 Euro für den Lebensunterhalt ohne Miete und Energiekosten, heißt es in der Studie, die sich auf Daten aus dem Jahr 2006 stützte. Zum Vergleich: Heute liegt der Regelsatz für einen Erwachsenen bei 359 Euro.

Die Autoren errechneten, dass bei enger Auslegung ein Bedürftiger mit 132 Euro im Monat auskommen müsste. Tabu sind in dem Fall Alkohol und Tabak. Für Freizeit, Unterhaltung und Kultur wurden lediglich ein Euro, für Kommunikation zwei Euro veranschlagt. Die Forscher leiteten daraus jedoch "keine Konsequenzen ab". Die Studie gibt keine Empfehlung, die Regelleistung zu senken. Dessen nahm sich dann umgehend die "Bild"-Zeitung an. Sie fragte: "Bekommen die Empfänger von Hartz IV zu viel Geld vom Staat?"

"Keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit armer Bürger"

Polarisierend wie kein Zweiter beantwortete der heutige Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin (SPD) die Frage mit einem klaren Ja. Er hatte schon im Februar 2008 mit einem eigens für Hartz-IV-Empfänger aufgestellten Speiseplan bundesweit Schlagzeilen provoziert. Demnach können sich Bedürftige mit vier Euro am Tag gesund ernähren, behauptete er - entgegen aller Erkenntnisse aus der Ernährungswissenschaft. Der Berliner Landesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Hans Nisblé, bezeichnete Sarrazin daraufhin als "zynischen Moralapostel", der "keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit armer Bürger" habe.

Ein weiteres Mal wurde der ehemalige Berliner Finanzsenator 2009 zum Politikum. Damals nahm er den aus seiner Sicht zu hohen Energieverbrauch der Hilfeempfänger aufs Korn: "Hartz-IV-Empfänger sind erstens mehr zu Hause; zweitens haben sie es gerne warm, und drittens regulieren viele die Temperatur mit dem Fenster", pöbelte Sarrazin im Magazin "Stern". Bernd Niederland, Geschäftsführer des ostdeutschen Sozialverbandes Volkssolidarität, nannte das eine "sozial verantwortungslose Äußerung, die einer geistigen Brandstiftung nahekommt", und warf Sarrazin vor, das gesellschaftliche Klima zu vergiften.

"Armut und Ausgrenzung müssen überwunden werden"

Zuletzt nahm indes ein anderer Politiker am Stammtisch Platz: Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister (SPD) in Berlin-Neukölln. Die geplante Einführung des Betreuungsgeldes für Eltern, die ihre Kleinkinder selbst versorgen, nannte er im Herbst vergangenen Jahres eine "gesellschaftspolitische Tieffliegerei. Wenn der Staat den Eltern immer wieder nur Geld überweist, werden die Milieus der Unterschicht damit stabilisiert und konserviert." Die Kinder hätten dagegen nichts davon, denn "die deutsche Unterschicht versäuft die Kohle ihrer Kinder."

Gegen diese und andere Klischees führen Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften einen nimmermüden Kampf. "Armut und Ausgrenzung müssen überwunden werden", ergreift Wolfgang Gern, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, Partei für die Betroffenen. Ein erster Schritt dazu könnten deutlich höhere Hartz-IV-Regelsätze sein, falls das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar die Bundesregierung zu diesem Schritt verpflichten sollte.

Gern, der auch Chef des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau ist, ruft die Medien auf, mehr über die bedrückende Lage der Ärmsten in der Gesellschaft zu berichten. Presse und Rundfunk gäben den Bedürftigen nur selten eine Stimme, rügt Gern: "Auf der anderen Seite darf ungestraft behauptet werden, dass Arme mit ihrem Geld nicht umgehen können und ihr Geld versaufen."

epd