Kirchen fordern sozialeres Europa: "Strategie 2020"
Wie soll die Marktwirtschaft in Europa im Jahr 2020 aussehen? Auf dem Papier liest es sich klar und einfach: Die Europäische Union will Wachstum, bei dem die Natur geschont wird und die sozial Schwachen nicht durch das Raster fallen. Die Wirtschaft soll auf Wissen, Innovation und auf soliden Werten basieren. Das sind die Grundzüge der "Strategie 2020", die die Staats- und Regierungschefs der EU Ende März formell verabschieden wollen.
05.02.2010
Von Isabel Guzmán

An den Details dieser Strategie tüfteln die Brüsseler Experten seit Monaten. Denn es geht um die unmögliche Quadratur des Kreises: Welchem Ziel wird wie viel Gewicht eingeräumt? Ein kritisches Zwischenfazit haben jetzt die großen Kirchen und kirchlichen Sozialträger gezogen. In den bisherigen Entwürfen entdecken sie viel Markt und wenig Soziales. "Deutlich verbesserungsbedürftig" seien die Vorschläge, heißt es in einem umfassenden Positionspapier.

Soziale Sicherung bleibt auf der Strecke

Seine Verfasser sind das Brüsseler Büro der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), das Katholische Büro, die Diakonie und die Caritas. Die Autoren nehmen sich unter anderem das Konzept der "Flexicurity" vor, das in vielen Brüsseler Fachabteilungen als beschäftigungspolitisches Wundermittel gilt. Arbeitgeber sollen demnach mehr Flexibilität, Arbeitnehmer und Arbeitslose im Gegenzug mehr Unterstützung erhalten.

Das funktioniere aber häufig nicht, argumentieren die Kirchen. Oft werde in der Praxis der Kündigungsschutz gelockert, während die soziale Sicherung auf der Strecke bleibe. Arbeitslosengeld, Jobvermittlung, Weiterbildung - viele Menschen hätten dazu kaum Zugang. Stattdessen drohten "sinkende Arbeitsplatzsicherheit, eine fortschreitende Auflösung des Tarifgefüges, ein wachsender Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigungsverhältnisse."

"Bildung: Befähigung zur Freiheit des Denkens, Urteilens und Handelns."

Die beste Lösung "ist immer noch ein unbefristeter Arbeitsvertrag mit entsprechendem Kündigungsschutz", unterstreicht die Leiterin des Brüsseler EKD-Büros, Katrin Hatzinger. Der Flexicurity-Ansatz habe seine Wurzeln in Skandinavien - "ihn zu einem wesentlichen Bestandteil des europäischen Sozialmodells zu erklären, bleibt aus unserer Sicht problematisch." 

Auch den Bildungssektor beleuchten die Kirchen. Sie begrüßen, dass die EU-Kommission ihn als tragenden Pfeiler des Sozialen anerkennt. Allerdings bestehe sein Hauptzweck keinesfalls darin, die EU wettbewerbsfähiger zu machen oder Humankapital zu beschaffen: "Bildung zielt auf die Befähigung des Menschen zu vernünftiger Selbstbestimmung, zur Freiheit des Denkens, Urteilens und Handelns ab."

"Aktuelle Krise ist auch eine Krise der Werte"

Ebenso skeptisch ist die "Konferenz Europäischer Kirchen" (KEK), ein Zusammenschluss von rund 125 christlichen Gemeinschaften. Die KEK will die ethische Dimension der 2020-Strategie gestärkt sehen. "Die aktuelle Krise ist nicht nur eine Finanz- oder Wirtschaftskrise. Sie ist auch eine Krise der Werte", zitiert sie in ihrer Stellungnahme den EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso.

Es folgt eine ganze Reihe von Forderungen. Schulkinder müssten nicht nur rechnen und lesen, sondern auch "Verantwortung, Solidarität, Toleranz und Respekt" lernen, unterstreicht die KEK. Sie spricht sich für ethische Prinzipien in der Wissenschaft und mehr Arbeitsplatz-Förderung für benachteiligte Gruppen aus. Die Armut müsse besser bekämpft werden - sowohl inner- als auch außerhalb Europas. Nicht zuletzt müsse die EU demokratischer und transparenter werden.

Bei aller Kritik sperren die Kirchen sich nicht prinzipiell gegen die 2020-Strategie, sondern verlangen Nachbesserungen. Sie sind auch offen für den Vorschlag, das reine Prinzip der Freiwilligkeit durch gewisse Sanktionsmöglichkeiten zu ersetzen. Auch daran hätten frühere Initiativen gekrankt, findet Katrin Hatzinger von der EKD: "Letztlich würden alle Elemente von EU2020 reine Lyrik bleiben, würden ihre Ziele nicht künftig einen höheren Grad an Verbindlichkeit erreichen."

epd