Spendengelder drohen in Haiti zu versickern
In Haiti sind mit dem Erdbeben nicht nur die Häuser zusammengefallen, sondern auch die staatliche Ordnung ist kollabiert. Die Regierung verlangt von den internationalen Helfern mehr Budgethilfe - aber Geld will keiner einer Regierung geben, die es eigentlich nicht mehr gibt. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass in Haiti nach einer Katastrophe Geld versickert.
04.02.2010
Von Ulrike Koltermann

"Palast zu verkaufen" hat jemand an den Eingang zum Präsidentenpalast in der haitianischen Hauptstadt Port- au-Prince gekrakelt. Einen Käufer wird er in dem Zustand wohl kaum finden. Das Gebäude, das dem Weißen Haus in Washington nachempfunden ist, erinnert an eine auseinanderfallende Sahnetorte. Bei dem verheerenden Erdbeben vor drei Wochen ist das protzige Portal zerstört worden, die Dachkuppeln sind verrutscht wie schief aufgesetzte Hüte. Fassungslose Haitianer halten ihre Fotohandys zwischen die Stäbe des Gitterzauns. Der kaputte Palast versinnbildlicht auf groteske Weise den desolaten Zustand der Regierung des Landes.

Wie soll diese Regierung es schaffen, das Land nach der Katastrophe mit mindestens 180.000 Toten und ungezählten zerstörten Häusern wieder aufzubauen? Wie soll sie die riesigen Summen an Spenden verwalten, die in den vergangenen Wochen zusammengekommen sind? Präsident René Préval hatte sich kürzlich erst beschwert, dass die Hilfe in erster Linie über die ausländischen Hilfsorganisationen laufe. Er hätte lieber mehr Budgethilfe. Damit löst er bei Geberländern allenfalls Stirnrunzeln aus. "Budgethilfe für eine Regierung, die nicht mehr existiert?" heißt es in Diplomatenkreisen.

In Haiti ist schon einmal Geld versickert

Es ist nicht das erste Mal, dass Haiti von einer Katastrophe heimgesucht wird und anschließend internationale Spendengelder fließen - wenn auch noch nie in diesem Ausmaß. Nach den jüngsten Wirbelstürmen hatte es 192 Millionen Dollar gegeben. Davon sollte die Hälfte für die Anschaffung schwerer Geräte verwendet werden. Da es keine Ausschreibungen gab, ist der größte Teil versickert. Jetzt, wo dringend baufällige Gebäude eingerissen und Schuttberge abgetragen werden müssen, gibt es viel zu wenige Bulldozer. Die andere Hälfte soll Préval mit Blick auf die ursprünglich für Ende Februar geplanten Wahlen auf die Wahlkreise verteilt haben.

Deutschland will seine Spenden deswegen in erster Linie über bewährte Hilfsorganisationen ins Land bringen. Die Bundesregierung hat bereits 107 Millionen Euro zugesagt. Die Bevölkerung hat zusätzlich 86 Millionen Euro Spenden gesammelt. Das Geld geht unter anderem an das Rote Kreuz, das eine mobile Klinik aufgebaut hat, an das Technische Hilfswerk und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Insgesamt sind etwa 30 Organisationen aus Deutschland in Haiti im Einsatz.

Wird das Machtvakuum vom US-Militär gefüllt?

In dem Karibikstaat herrscht derzeit ein Machtvakuum, in dem sich mehrere Kräfte gegenseitig die Kompetenzen streitig machen. Die Regierung zeigt sich handlungsunfähig, eine bessere Mannschaft ist nicht in Sicht. Die Parlamentswahlen sind auf unbestimmte Zeit verschoben, dass im Herbst wie geplant der Präsident neu gewählt wird, gilt als unwahrscheinlich.

Die UN-Mission - die einzige weltweit, die zur Stabilisierung eines Landes eingesetzt ist, in der es keinen Krieg gegeben hat - erholt sich noch von dem Schock. Sie hat ihre zivile Führung und rund 100 Mitarbeiter verloren. Die USA, die schon früher in Haiti kräftig mitgemischt haben, werden bald mehr als 6.000 Soldaten im Land haben. Präsident Préval soll sich mittlerweile sogar unter ihren Schutz gestellt und eine US-Leibwache bekommen haben.

"Das größte Problem ist die Koordination", heißt es in Diplomatenkreisen. Das betrifft sowohl die Hilfsorganisationen, die sich untereinander bislang nur mangelhaft abstimmen, als auch die politische Ebene. Ob Haiti eine Chance hat, wieder auf die Beine zu kommen? Ob all die Hilfsgelder dort ankommen, wo sie nützlich sind? Und das Land dennoch eine völlige Abhängigkeit von den Geberländern vermeiden kann? Bislang gibt es auf all diese Fragen noch keine überzeugenden Antworten.

Standardisierte Arzneimittelpäckchen werden gebraucht

Auch bei den Sachspenden gibt es Probleme, gerade mit Medikamenten. Zahlreiche Arzneimittelspenden für Haiti sind nach Angaben von Helfern völlig überflüssig: "Leider wurden auch Unmengen von Arznei und Material angekarrt, die kein Mensch hier braucht", bedauerte Carina Jochum von "Apotheker ohne Grenzen". Zur Versorgung der Überlebenden sei eine standardisierte Zusammenstellung von Arzneimitteln wie Antibiotika und Schmerzmitteln nötig. Zudem würden Verbandsmaterialien und Wasserentkeimungstabletten nach den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation gebraucht.

Wie Hunderte internationaler Helfern versuchen vier Pharmazeuten von "Apotheker ohne Grenzen" die Überlebenden des Erdbebens vom 12. Januar zu unterstützen. Sie helfen vor allem bei der Verteilung von Medikamenten und der Inventarisierung der Vorräte in der Zentralapotheke, erläutert Jochum. "Wir sollen Ordnung im Chaos schaffen."

"Jeder versucht, irgendwie weiterzuleben"

Die Zustände im Katastrophengebiet seien nach wie vor dramatisch, sagte die Apothekerin, die für drei Wochen in Haiti ist. "Hier steht nichts mehr, die Menschen schlafen und leben auf der Straße im puren Dreck." Der Bedarf an medizinischer Hilfe sei groß, betont die 35-Jährige. Neben Brüchen und anderen Verletzungen litten viele Menschen auch unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

Insgesamt hätten sich die Menschen aber in ihrem Leben auf der Straße eingerichtet und fingen an, sich im Schutt eine neue Existenz aufzubauen. "Jeder versucht, irgendwie weiterzuleben, trotz der Trostlosigkeit, trotz all des Staubes, der sich über alles gelegt hat."

dpa/epd