100 Tage im Parlament: Entscheidungen zwischen Umzugskartons
Ausgebildeter Industriekaufmann, studierter Betriebswirt - und jetzt mit knapp 26 Jahren Abgeordneter: Der Frankfurter FDP-Nachwuchspolitiker Christoph Schnurr hat 2009 zum dritten Mal für den Bundestag kandidiert und ist, eher unerwartet, ins Parlament eingezogen. Wie sieht seine persönliche Bilanz 100 Tage nach Start der Legislaturperiode aus? Für evangelisch.de erzählt Schnurr, wie es ihm im Amt ergeht, was beim Start Mühe gemacht hat und was er sich für den Rest der Legislaturperiode erhofft.
04.02.2010
Protokoll: Ulrich Pontes

Dass ich es überhaupt ins Parlament geschafft habe, da war auf jeden Fall Überraschung dabei. Mein Listenplatz war ganz sicher nicht hundertprozentig sicher. Im Wahlkampf gab es Tage und Momente, wo man die FDP-affine Stimmung mitbekommen und gedacht hat: es könnte klappen. Dann gab es wieder Tage, wo ich gedacht habe: Wahlkampf macht Spaß - auch ohne reinzukommen. Während des Wahlkampfs habe ich auch noch studiert, Mitte September war meine letzte Prüfung. Wenn ich nicht in den Bundestag gewählt worden wäre, hätte ich wahrscheinlich erst mal zwei Monate kreative Denkpause gemacht, mich von der Doppelbelastung Uni/Wahlkampf erholt und dann anderweitig beworben.

Der erlösende Anruf kam um vier Uhr morgens

Der Wahlabend wurde für mich dann besonders spannend. Vor der Wahl war grob ausgerechnet worden, dass ich mit meinem Listenplatz Nummer acht dann reinkomme, wenn die FDP in Hessen ein bisschen mehr als 16 Prozent holt - 2005 waren es 11,7 Prozent. Die Formel für die Vergabe der Mandate ist aber sehr kompliziert, und es hing bei mir letztlich nicht allein vom hessischen Ergebnis ab, sondern auch von der Wahlbeteiligung in anderen Bundesländern - und deren Ergebnisse ließen auf sich warten. So wurde ich erst am 28. September um vier Uhr morgens angerufen. Die Fraktionsgeschäftsstelle sagte mir: "Herr Schnurr, Sie sind drin, wir sehen uns in sieben Stunden bei der Fraktionssitzung." Daraufhin hab ich mir erst mal ein Flugticket besorgt.

In Berlin bekamen wir dann in Einführungsgesprächen viele viele Tipps für den Anfang. Es gibt schon sehr vieles, an das man denken muss. Etwa die Offenlegung von Einkünften. Ich kenne ja aus dem Fernsehen die Berichte über Abgeordnete, die falsche oder gar keine Angaben gemacht haben - da will man natürlich nichts falsch machen! Dabei kann das leicht passieren, wenn man in den ersten Tagen und Wochen noch gar kein Büro hat und so viele administrative Dinge um die Ohren. Auch muss man erst mal lernen, sich zurechtzufinden: Im Paul-Löbe-Haus, wo wir am Anfang saßen, sehen alle Flure gleich aus - ich habe mich da am Anfang zweimal am Tag verlaufen.

Zu viert in einem Raum zwischen 50 Kartons

Dort hat uns der Frankfurter FDP-Abgeordnetenkollege Hans-Joachim Otto Obdach gewährt, dem selbst noch der Umzug bevorstand. Da saßen wir dann zu viert in einem Raum zwischen 40 Kartons von Otto und zehn von mir, das war nur bedingt arbeitsförderlich … Überhaupt war das wohl die größte Ernüchterung: hier anzukommen und dann wegen der logistischen Probleme nicht voll durchstarten zu können. Wo doch sonst jeder Praktikant schon am ersten Tag Schreibtisch, Computer und Passwort bekommt.

Freitag vor einer Woche haben meine Mitarbeiter und ich nun endlich unsere eigenen Büroräume bekommen - andere warten immer noch. Damit sind wir jetzt endlich mehr oder weniger einsatzbereit und können uns weitgehend auf das Inhaltliche konzentrieren. Vorher war das schon schwierig: Mitte Dezember haben wir ja über sehr wichtige Themen abgestimmt, Stichwort Mandatsverlängerung Afghanistan zum Beispiel - und dabei war ein Großteil der Abgeordneten noch nicht voll einsatzfähig. Das sind Themen, bei denen man schon mehr als eine ruhige Minute braucht, um die Unterlagen durchzulesen und sich zu überlegen, welche Entscheidung man mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Wenn Sie da nur zwischen Kartons sitzen … Ich will nicht klagen, aber man stößt einfach an seine Grenzen, wenn die Struktur nicht stimmt. Ich fand es schon oft ein Wunder, wie das Büro überhaupt funktionierte, als wir noch keine eigenen vier Wände hatten.

Gänsehaut bei der konstituierenden Sitzung

In meinem Büro arbeiten wir zu viert: Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter ist aus Frankfurt mitgekommen, wo ich vorher schon Stadtverordneter war. Die anderen beiden hatten sich neu beworben. Als Chef verantwortlich für drei Mitarbeiter zu sein, ist schon eine Herausforderung!

Mit meinen Mitarbeitern bespreche ich auch, welche Termine ich wahrnehme. Schwerpunkt ist für mich alles, was mit Sicherheitspolitik zu tun hat, weil ich Mitglied im Verteidigungsausschuss bin. Außerdem Fraktionssitzungen, Junge Gruppe, Landesgruppe Hessen, Plenarsitzungen … Abends gibt es dann oft noch Veranstaltungen von der Fraktion, von Verbänden, von der Bundeswehr - so bin ich von morgens halb acht bis 18 oder 19 Uhr im Büro und in Sitzungen zugange, und im Anschluss daran sind dann meistens zwei oder drei Abendtermine. Außerhalb der Sitzungswochen kann ich mir meine Zeit etwas freier einteilen, zum Beispiel mir auch mal einen Tag freihalten um Akten zu lesen.

Höhepunkt der 100 Tage war für mich die konstituierende Sitzung des Bundestags. Das war ein ganz besonderer Moment - auch wenn es unzählig viele andere interessante Momente gab. Aber bei der konstituierenden Sitzung hatte ich Gänsehaut: Jetzt bist du wirklich in diesem Saal angekommen, hast du dein Mandat errungen, für das du dreimal kandidiert hast, und jetzt geht die Arbeit los! Demnächst steht dann auch meine erste Rede im Plenum an. Insgesamt ist meine Hoffnung für die Legislaturperiode, dass ich an der einen oder anderen Sache etwas mitgestalten kann. Um es an konkreten Projekten festzumachen: dass zum Beispiel die Verkürzung der Wehrpflicht sinnvoll gemeistert wird, oder dass Afghanistan sich stabilisiert. Und für Frankfurt will ich natürlich auch noch das ein oder andere erreichen.

Ziele, Glück und Zufriedenheit

Ernüchternd war für mich festzustellen, dass ich mich nicht in alles wirklich einarbeiten kann, einfach aus Zeitmangel. Es gibt so viele Sitzungen und Drucksachen! Man spezialisiert sich also auf sein Kern-Aufgabengebiet, und wenn Entscheidungen in anderen Bereichen anstehen, dann muss man sich mit den zuständigen Kollegen austauschen. Deshalb sind die Fraktionssitzungen als Querschnittsveranstaltungen so wichtig, um sich klarzuwerden, wie man bei anstehenden Plenarentscheidungen außerhalb des eigenen Fachgebiets abstimmt. Man kann dort gegebenenfalls auch sagen, wenn man ein Problem mit dem Standpunkt der Fraktion hat und zusätzliche Informationen oder ein persönliches Gespräch mit einem Kollegen aus dem Themenbereich einfordern kann. Anders als der Rest der Fraktion abzustimmen, habe ich dadurch noch keinen Anlass gesehen.

Überhaupt finde ich den Start unserer Koalition bisher ganz gut, bei aller Kritik, die ja wertvoll ist und mit der man sich auseinandersetzen muss. An manchen Stellen muss man denke ich die Kommunikation noch optimieren: damit eben nicht alle nur über die Mehrwertsteuersenkung für Übernachtungsleistungen reden, wenn wir ein umfassendes Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschieden.

Sollte ich nach vier Jahren ausscheiden - und das kann ja passieren, das weiß vorher keiner - wäre ich glücklich und zufrieden, wenn ich sagen kann: Bei dem einen oder anderen Projekt konnte ich mich einbringen und etwas Gutes erreichen. Aber das wird schon gar nicht einfach, glaube ich. Denn als Einzelner hat man doch sehr begrenzte Möglichkeiten, ohne Verbündete geht kaum etwas.


Ulrich Pontes ist als Redakteur bei evangelisch.de für das Ressort Politik zuständig.