Digitaler Maoismus? Die Debatte über das Web 2.0
Die internetkritische Debatte, die mit den Aussagen und Interviews des Computerpioniers Jaron Lanier losgetreten wurde, versandete im Netz schnell. Zurecht, findet auch der deutsche Internet-Guru Ossi Urchs.
02.02.2010
Von Georg Klein

Mit seinen Aussagen zum Thema Internet hat der "Internetguru" Jaron Lanier eine Debatte losgetreten, die sich allerdings vor allem in den Feuilletons abspielte und inzwischen weitgehend versandet ist. Zurecht? Was Lanier angesprochen hat, sind tatsächlich fundamentale Fragen, die vor allem für Geschäftsmodelle im Internet aber auch für gesellschaftliche Entwicklungen von Bedeutung sind. Er kritisierte nicht nur die verbreitete "Gratis-Mentalität" im Netz, er äußerte zudem Zweifel daran, dass im Internet so etwas wie eine "Schwarm-Intelligenz" entsteht. Stattdessen würden sich Menschen im Netz eher zum "Mob" zusammenschließen und sich in "Drecksäcke" verwandeln, konstatierte er.

Für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) ist Lanier seither quasi ein vom Saulus zum Paulus gewandelter Internetguru, der all die Träume vom freien Informationsfluss endlich als "digitalen Maoismus" enttarnt. Die "Süddeutsche Zeitung" hingegen betont im Titel lieber Laniers Zitat, "Google will, dass alle gratis arbeiten." Im Netz, von dem die Rede ist, auch in den deutschen Blogs, fallen die Kommentare eher verhalten bis gar nicht aus.

Wer ist Lanier?

Lanier gehört zu den Mitbegründern unserer heutigen Netzwelt. Schon in den frühen 80er Jahren beschäftigte er sich mit dem Thema virtuelle Realität. Bis heute ist umstritten, ob er den Begriff erfunden oder einfach nur populär gemacht hat. Er gründete die Firma VPL, die als erste 3D-Techniken und virtuelle Welten entwickelte, für Film und Fernsehproduktionen. Auch dabei hatte er das Kommende im Blick, der Avatar wurde praktisch wie theoretisch vom ihm entwickelt. Man übertreibt wohl nicht, wenn man feststellt, dass James Camerons aktueller Filmerfolg ohne Lanier nicht zu denken wäre.

Theoretisch war Lanier sowieso weit vorne und beschäftigte sich früh mit dem Begriff der Immersion. Immersion bezeichnet den Zustand reduzierter Selbstwahrnehmung, wenn eine anspruchsvolle virtuelle Umgebung statt dessen die Aufmerksamkeit fesselt. Bis dahin hatte man über Voraussetzungen und verschiedene Identifikationsgrade mit künstlichen Wirklichkeiten nur im filmischen oder kulturellen Kontext nachgedacht. Laniers Firma entwickelte die ersten wirklich weit verbreiteten Plattformarchitekturen für eindringliche und mit anderen Usern teilbare virtuelle Realitäten. Die meisten Online-Rollenspiele beruhen auf seiner Grundlagenarbeit.

Gegen den Gratis-Wahn

Dass Lanier sich vehement für Bezahlmodelle im Netz - speziell die sogenannten Micropayments - einsetzt, könnte etwas damit zu tun haben, dass er immer auch künstlerisch tätig war und ist. Als Musiker und Komponist arbeitete er bereits mit so unterschiedlichen Größen wie Philip Glass, Ornette Coleman oder George Clinton zusammen. Seine Arbeiten als Maler und Zeichner werden in amerikanischen und europäischen Museen gezeigt.

Sein Verhältnis zu Produzenten von kreativen Inhalten, gleich, ob es sich dabei um Musik, Kunst oder auch Journalismus handelt, ist daher ein solidarisches. Laniers Forderung nach einem fairen Bezahlungsmodell für Künstler, Musiker und "Geistesarbeiter" dürfte von diesen geteilt werden. Die unbeschränkte Kopierbarkeit von Inhalten im Netz führte eben nicht nur zum Niedergang beispielsweise der etablierten Musikindustrie, sondern auch zu konkreten Einkommensverlusten für Kreative. - Die oft sowieso nicht gerade mit sicheren Einkommen gesegnet sind.

Eine neue Religion?

Andere Aussagen in Laniers Texten und Äußerungen hingegen werden im Netz eher mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet, wenn sie denn überhaupt erwähnt werden. Beispielsweise seine Behauptung, dass File Sharing, Wikipedia und Begriffe wie "Schwarmintelligenz" der Ausdruck einer gefährlichen neuen Internetreligion seien. Einer Religion, die das Kollektiv anbetet, den Einzelnen und seine Leistung entwertet, zu einer allgemeinen Verrohung und Verflachung führt und im digitalen Maoismus endet. Selbiger sei aber auch Monopolkapitalismus schlimmster Sorte. Weil die von ihm so benannten "Herren der Wolken", wie Google oder Youtube, sämtliche Inhalte beanspruchten, ohne dafür bezahlen zu wollen.

Sicherlich, die Umgangsformen in vielen Netzforen sind in der Tat erbärmlich, und auch bei der Diskussion über Formulierungen und Inhalte bei Wikipedia herrscht oft ein harscher Ton. Auch sind nach wie vor viele utopische Vorstellungen über das Netz, und wie es die Welt verändern wird/soll, im Umlauf, die durchaus etwas Religiöses haben. Der Cyberpunk lässt grüßen. Insgesamt aber sind die tonangebenden Theoretiker, Entwickler und Blogger eher nüchtern, wissenschaftlich oder technisch geprägt. Positive wie negative Entwicklungen im Netz werden entsprechend betrachtet und kommentiert. Laniers Äußerungen scheinen den meisten aber zu unausgegoren zu sein, um sich dazu zu äußern. Ein eher widerwilliger Kommentar zum Zeitungshype um den digitalen Maoismus wird denn auch bezeichnenderweise mit den Worten eröffnet, "it's a dirty job, but someone's gotta do it." Im Endeffekt läuft die Kritik, Punkt für Punkt dass FAZ-Interview abhakend, auf die Überschrift für Marcel Weiss' Blogeintrag hinaus, Lanier sähe "Ideologien, wo keine sind".

Das Ende des Copyrights

Ähnlich sieht das auch Ossi Urchs, der in Deutschland gerne als Internetguru bezeichnet wird und eine erfolgreiche Medienagentur in Offenbach betreibt. "Das wirft einfach so viel in einen Topf zusammen", sagt er zu der Diskussion. "Von der Kapitalismuskritik bis hin zum Musikbusiness". Für ihn tauchen bei Lanier interessante Ansätze auf, die dann aber in Pauschalaussagen hängenblieben. "Seine Arbeiten zu virtuellen Welten waren visionär", sagt Urchs. "Aber er hat dabei den Zusammenhang mit sozialen Netzwerken und deren schnelles Wachstum völlig unterschätzt. Jetzt versucht man, mit seinen Äußerungen eine internetkritische Debatte loszutreten, aber auf diese Art ist das schlicht und einfach Unsinn."

Eine endgültige Lösung für die Probleme von Künstlern und Produzenten von Inhalten sieht auch Urchs noch nicht erreicht. Zurzeit erscheint ihm die Creative Commons Lösung am brauchbarsten, bei der private Nutzung erlaubt ist, aber kommerzielle kostenpflichtig. Es sei ja allein schon am englischen Begriff Copyright sichtbar, dass es so im digitalen Zeitalter nicht mehr funktionieren könne. "Es gibt kein Original und keine Kopie mehr, bestenfalls Klone von Datensätzen, die identisch sind. Insofern ist Copyright ein Begriff aus der Vergangenheit."


Fotos: Privat / Bernd Euring

Georg Klein lebt und arbeitet als freier Autor in Offenbach a.M