"Tatort: Vergessene Erinnerung", Sonntag, 31. Januar, 20.15 Uhr im Ersten
Krimi, Thriller, Mystery: alles drin in diesem "Tatort" aus Niedersachsen, dessen komplexe Geschichte so verwirrend erzählt wird, dass man genauso wenig durchblickt wie Kommissarin Lindholm (Maria Furtwängler). Aber die Desorientierung ist enorm reizvoll, weil Buch und Regie die Handlung mit diversen skurrilen Figuren bevölkern. Außerdem würzt das routinierte und vor Jahren mit einem Grimme-Preis für einen bergischen "Polizeiruf 110" ("1A Landeier") ausgezeichnete Gespann Dirk Salomon und Thomas Wesskamp den Krimi immer wieder mit witzigen Momenten und heiteren Dialogen.
Zunächst aber wähnt man sich in einem Horrorfilm. Nach einer offenbar Kräfte zehrenden Tagung fährt Lindholm abends zurück nach Hause, kommt dabei aber erst vom Heimweg und dann von der Straße ab: Plötzlich taucht eine Gestalt auf der Straße auf. Als sie im Krankenhaus wieder erwacht, fehlt ihr ein ganzer Tag; angeblich hat man sie erst morgens gefunden. Da ihr immer wieder Erinnerungsfetzen durch den Kopf schießen, glaubt sie nicht, dass sie die ganze Zeit bewusstlos im Auto verbracht hat. Ihr Gefühl sagt ihr, dass irgendetwas faul ist in dem niedersächsischen Dorf. Kurzerhand beschließt sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Prompt werden bald drauf mehrere Menschen durch Gewehrschüsse getötet. Was zunächst aussieht wie der Streit um ein großzügiges Erbe, wird vollends rätselhaft, als sich einer der Toten als europaweit gesuchter Großdealer entpuppt.
Neben der reizvollen filmischen Umsetzung von Lindholms alptraumhaften Visionen (Regie: Christiane Balthasar, Kamera: Hannes Hubach), die die Verwirrung der Hauptfigur durch entsprechende Verfremdungen illustriert, sorgen vor allem die Darsteller dafür, dass dieser „Tatort“ aus Niedersachsen großes Vergnügen bereitet. Max Hopp zum Beispiel ist ein Genuss als mürrischer Dorfpolizist, der eigentlich bloß seine Ruhe will. Eine Schlüsselrolle spielt auch Thomas Thieme: Bauerngehilfe Horst verschwindet zwar nach kurzer Einführung aus dem Film, greift am Ende jedoch um so nachhaltiger in die Handlung ein, als sich die Wahrheit über einen acht Jahre zurückliegenden Unfall herausstellt. Ohnehin haben nahezu alle Figuren ein mehr oder weniger düsteres Geheimnis
Im Zentrum aber steht selbstredend Lindholm, die sich ihrer Sache lange nicht sicher sein kann. Die Halskrause nach dem Unfall ist sinnfälliges Zeichen dafür, wie sehr die kühle Analytikerin in ihren Grundfesten erschüttert ist: Ausgerechnet auf ihren Kopf kann sich die Kommissarin nicht mehr verlassen. Mehr spür- als sichtbare Vorfälle am Rande des Wahrnehmungsfeldes sorgen dafür, dass die Kommissarin einerseits an ihrem Verstand zweifelt; andererseits bestärken sie sie in der Vermutung, dass etwas nicht stimmt. Dann aber gerät erst ihr kleiner Sohn und anschließend auch sie selbst in Lebensgefahr. Ein anspruchsvoll erzählter "Tatort", bei dem Regisseurin Balthasar eine ausgezeichnete Mischung aus temporeichen spannenden und ruhig erzählten, entspannenden Szenen gefunden hat.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und die "Frankfurter Rundschau" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).