65 Jahre nach der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz, bei einer Feierstunde im Bundestag, bezeichnete der israelische Präsident Shimon Peres in seiner bewegenden Gedenkrede am Mittwoch im Bundestag den Holocaust als "ewiges Warnzeichen, als Verpflichtung zur Heiligkeit des Lebens". Der Hass der Nazis auf die Juden lasse sich nicht allein mit Antisemitismus erklären, sagte Peres. Die Juden seien in den Augen der Nationalsozialisten eine moralische Bedrohung gewesen. "Dabei wurde auch der Glaube geleugnet, dass jeder Mensch im Antlitz Gottes erschaffen ist, dass jeder Mensch vor Gott gleich ist", so der Friedensnobelpreisträger.
NS-Täter verfolgen: "Nicht Rache - es geht um Erziehung"
Der 86-Jährige, der seine Ansprache mit dem jüdischen Totengebet "Kaddisch" begann, erzählte in sehr persönlichen Worten von seinem Großvater, der mit der gesamten jüdischen Gemeinde von Peres Heimatort Wiszniewo im damaligen Polen und heutigen Weißrussland von den Nazis in der Synagoge verbrannt wurde. Sein Enkel war 1934 im Alter von elf Jahren gerade noch rechtzeitig nach Palästina entkommen. Zum Abschied am Bahnhof habe ihm sein Großvater gesagt: "Mein Kind, bleib' immer ein Jude."
Der israelische Präsident appellierte an die Deutschen, die noch lebenden NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen und ihnen eine gerechte Strafe zu erteilen. "In unseren Augen handelt es sich nicht um Rache. Es geht um Erziehung", so der 86-jährige Friedensnobelpreisträger vor allem mit Blick auf die junge Generation. "Die Jugend muss sich erinnern, darf nicht vergessen und muss wissen, was geschehen ist." Überall auf der Welt gebe es immer weniger Überlebende des von den Nazis organisierten Mordes an den Juden, sagte Peres. "Ihre Zahl nimmt täglich ab. Und gleichzeitig leben auf deutschem Boden, in Europa und anderswo auf der Welt noch immer Menschen, die damals dieses schrecklichste Ziel verfolgten: den Völkermord."
Peres sprach auch die aktuellen Bedrohungen für Israel an. Er sei der Überzeugung, dass Deutschland alles tun werde, "damit der jüdische Staat sich nie mehr alleine einer Gefahr ausgesetzt sehen muss". Er ist der erste israelische Präsident, der am Holocaust-Gedenktag im Bundestag spricht. Unter den sechs Millionen Juden, die dem Völkermord der Nationalsozialisten zum Opfer fielen, waren auch seine Großeltern und weitere Verwandte.
Lammert: "Existenzrecht Israels nicht verhandelbar"
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) betonte das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel. Es sei nie normal gewesen und müsse nie normal werden, sondern bleibe von der beispiellosen historischen Erfahrung geprägt: "Wir Deutschen tragen eine Mitverantwortung für den Staat Israel." Wo sein Existenzrecht und seine Sicherheit bedroht sei, "gibt es für uns Deutsche keine Neutralität". Das Verhältnis zu Israel werde wegen der Erinnerung an die Judenverfolgung nie normal sein. "Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust gehört gewissermaßen zu den Grundlagen unserer Verfassung", sagte Lammert.
Je weniger Zeitzeugen es gebe, und je mehr Menschen anderer Herkunft in Deutschland lebten, desto wichtiger sei das Bewusstsein für die besondere Verantwortung Deutschlands. Er erneuere an diesem Tag das Versprechen, "dass wir nicht vergessen werden". Mit Blick auf den Iran sagte Lammert, ein atomar bewaffneter Staat in Israels Nachbarschaft, "geführt von einem offen antisemitisch organisierten Regime" sei nicht nur für Israel unerträglich. "Die Weltgemeinschaft darf eine solche Bedrohung nicht dulden."
"Der Holocaust hat die niedrigsten Instinkte freigesetzt"
Der polnische Historiker und Holocaust-Überlebende Feliks Tych thematisierte den weiter existierenden Antisemitismus nach Kriegsende. "Die moralischen Normen großer Bevölkerungsgruppen wurden bedenklich deformiert." Tych, der versteckt und mit gefälschten Papieren den Krieg in Warschau überlebte, erinnerte an Pogrome in Polen, Ungarn und der Slowakei, in denen Überlebende des Holocaust zu dessen verspäteten Opfern geworden seien. "Der Holocaust hat in Teilen der Bevölkerung die niedrigsten Instinkte freigesetzt", sagte der 80-Jährige.
An der Gedenkfeier nahmen auch Bundespräsident Horst Köhler, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundesratspräsident Jens Böhrnsen (SPD) und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, teil. Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog proklamiert und auf den 27. Januar festgelegt. An diesem Tag war 1945 das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit worden.