Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat einen Strategiewechsel für den deutschen Einsatz in Afghanistan angekündigt. Es werde jetzt die Etappe der Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung beginnen, sagte Merkel am Dienstag in Berlin. Zuvor hatte sie mit den zuständigen Ministern und den Spitzen der im Bundestag vertretenen Parteien das neue Gesamtpaket des deutschen Afghanistan-Einsatzes beraten. Ein Zieldatum für den Abzug der Bundeswehr nannte sie nicht - unterstützte aber die Absichtserklärung von Präsident Hamid Karsai, wonach Afghanistan 2014 möglichst selbst für seine Sicherheit sorgen soll.
Weiter sagte Merkel, für eine reale Abzugsperspektive müsse zunächst Stabilität geschaffen werden. Dazu soll das Bundeswehrkontingent von derzeit maximal 4.500 Soldaten um 850 aufgestockt werden. 500 davon seien für "Schutz und Ausbildung" zuständig, 350 weitere eine flexible Reserve, sagte Merkel.
Zeichen auf Versöhnung mit den Taliban
Zugleich kündigte die Kanzlerin deutsche Hilfe für die Wiedereingliederung von Taliban an, die in Afghanistan aus der Radikalität aussteigen wollen. Dafür wolle die internationale Gemeinschaft einen Fonds von insgesamt 350 Millionen Euro aufbauen, an dem sich Deutschland in zweistelliger Millionenhöhe beteiligen werde.
Das passt in einen allgemeinen Meinungsumschwung: Mittlerweile stehen die Zeichen auf Versöhnung mit dem langjährigen Feind. Die Taliban gehörten zur politischen Struktur Afghanistans, hat US-Verteidigungsminister Robert Gates nüchtern festgestellt; "nicht jeder, der dort kämpft, ist ein Terrorist", sagt Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP). Die UN-Mission in Afghanistan macht sich dafür stark, dass wichtige Taliban-Führer von der schwarzen Terror-Liste genommen werden, und auch der Oberste Kommandeur der NATO-Truppen in Afghanistan, Stanley McChrystal, will mit den Aufständischen lieber über Frieden sprechen, als sie zu bekriegen. "Es ist genug gekämpft worden", sagte er laut der britischen Zeitung "Financial Times", nötig sei eine "politische Lösung" des Konflikts.
Afghanistan-Kenner rechneten ohnehin schon lange damit, dass die radikal-islamischen Taliban nach einem Abzug der westlichen Truppen wieder eine größere politische Rolle in Afghanistan spielen oder gar wieder die Macht übernehmen werden. Hinter den Kulissen werden schon seit geraumer Zeit Möglichkeiten ausgelotet, mit bestimmten Fraktionen der militanten Extremisten ins Gespräch zu kommen.
"Mit Jobangeboten könnten einige Kämpfer reintegriert werden"
Die deutsche Truppenverstärkung fügt sich ebenfalls harmonisch ins Gesamtbild: Die USA haben bereits Ende 2009 eine drastische Aufstockung beschlossen, wollen jedoch ab 2011 mit dem Abzug beginnen. Teil dieser Exit-Strategie ist eine Stärkung der afghanischen Armee- und Polizeikräfte, die schrittweise immer mehr Aufgaben der westlichen Truppen übernehmen sollen. Auch dafür ist eine neue Strategie im Umgang mit den Taliban notwendig.
So will die afghanische Regierung 35.000 Taliban-Kämpfern einen Job oder eine Ausbildung verschaffen, um den Guerilla-Krieg gegen die westlichen Truppen am Hindukusch einzudämmen. Präsident Hamid Karsai zählt dafür auf die nun auch von Merkel angekündigte finanzielle Unterstützung des Westens. Auch US-Verteidigungsminister Gates spricht sich für eine Wiedereingliederung von "Zehn-Dollar-Taliban" aus, die nur aus wirtschaftlicher Not gegen die westlichen Truppen kämpfen: "Wenn wir ihnen Jobs anbieten können, wenn wir ihren Familien Sicherheit geben, dann, so glauben wir, könnten einige dieser Kämpfer reintegriert werden". Frühere Versuche der afghanischen Regierung, mit den Aufständischen zu verhandeln, waren ins Leere gelaufen, weil Überläufern weder Sicherheit noch finanzielle Anreize geboten wurden.
Doch neben Geld und Arbeit für kriegsmüde Taliban-Kämpfer spielen vor allem Verhandlungen mit den Extremisten-Führern eine wichtige Rolle für die Friedensstrategie. Bekenntnisse westlicher Politiker oder Militärs, man wolle nur mit den "gemäßigten Taliban" reden, stoßen aber auf Zweifel. Kritiker wenden ein, dass eine moderate Fraktion bei den Islamisten bisher nicht zu finden sei.
Indien und Pakistan sind weitere Player
Entscheidend für die Zukunft Afghanistans ist schließlich noch ein weiterer Faktor: das Verhalten anderer Staaten, die seit Jahrzehnten in der Innenpolitik des Landes am Hindukusch mitmischen. Wichtige Player sind Indien und Pakistan. Die beiden Erzfeinde führen schon lang einen verdeckten Krieg um Einfluss in der Region. Pakistan, das die Taliban mit Hilfe der USA in den 80er Jahren erst großgezogen hat, um die sowjetische Besatzungsmacht am Hindukusch zu bekämpfen, verspürt im Moment wenig Lust, gegen die Extremisten anzugehen, auch wenn die USA sie dazu drängen.
Denn nach einem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan dürften die Taliban dort wieder ein wichtiger Partner für Pakistan werden. Aber auch Indien ringt um mehr Einfluss in Afghanistan - und wird dabei vom Westen unterstützt. Anhaltende Spannungen zwischen Pakistan und Indien aber könnten Afghanistan in einen neuen Bürgerkrieg stürzen, sollten die westlichen Truppen einmal abziehen. Schon in den 90er Jahren hatten Pakistan und Indien gegnerische Seiten im Konflikt unterstützt.