In Haiti werden Journalisten selbst zu Helfern
Wenn sie aus Katastrophenregionen berichtet wie jetzt aus dem zerstörten Haiti, stehen Journalisten vor einem Dilemma. Wie stark sich Medienvertreter dabei in die Hilfe für die Opfer verwickeln lassen sollten, diskutiert die Branche aktuell in den USA.
25.01.2010
Von Corinna Blümel

Mehr als 260.000 Mal wurde das Video bei Youtube schon auf gerufen: In hektischen Bildern zeigt es, wie CNN-Reporter Anderson Cooper in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince einen Jungen mit einer heftig blutenden Kopfwunde wegzieht und dann -trägt, während Menschen desorientiert durch die Trümmer irren und junge Männer einen Laden plündern. Die wackelnde Kamera folgt Cooper, zeigt, wie er sein Mikrofon aus der Hand legt, während er einen geschützten Ort sucht, um den Verletzten in Sicherheit zu bringen. 

Helfen oder Berichten – vor diesem Dilemma stehen Journalisten bei jeder Katastrophenlage, seien es Erdebeben wie jetzt in Haiti oder der Tsunami von 2004, seien es Hungersnöte, kriegerische Auseinandersetzungen oder das Flüchtlingselend in Darfur. Und immer wieder stellt sich die Frage, wie Reporter und ihre Teams in solchen Situationen angemessen reagieren können.

Emotionen vor der Kamera

CNN-Reporter Cooper gilt als "Emo-Anchor" – einer, der gerne für seine Sendung "Anderson Cooper 360" mit Emotionen spielt und sich auch vor der Kamera einmischt. Trotzdem ist erkennbar, dass er in Haiti aus der Situation heraus handelte. Wesentlich kalkulierter wirkt dagegen ein anderes CNN-Video: Medizin-Chefkorrespondent und Neurochirurg Sanjay Gupta eilt zu einem eingestürzten Haus, um ein 15 Tage altes Baby mit einer Kopfwunde zu untersuchen. Hier bleibt die Kamera ruhig, zeigt im Detail, wie Gupta in die Pupillen leuchtet und Reflexe kontrolliert. 

Gupta reklamiert für sich, er sei in erster Linie Arzt und erst dann Journalist. Aber sein Wechselspiel zwischen beiden Rollen stößt unter medienethischen Gesichtspunkten auf Widerspruch, zumal er bereits früher in verschiedenen Krisengebieten vor laufender Kamera operiert hat und in den USA damit Starruhm erlangte.

Operationen vor laufender Kamera

Deshalb sieht die Washington Post sogar einen "Gupta-Effekt" darin, dass alle großen US-Fernsehsender in Haiti ebenfalls mit Journalisten anreisten, die ausgebildete Ärzten sind und sich bei medizinischen Eingriffen filmen ließen. Die von der NBC entsendete Chirurgin Nancy Snyderman kümmerte sich um Brüche. ABC-Mann Richard Besser half bei der Entbindung eines Frühgeborenen. Und Jennifer Ashton von CBS News assistierte bei der Behandlung einer Jugendlichen, deren Arm amputiert werden musste. Einer der CBS-Oberen räumt später ein, dass Asthons Haiti-Einsatz auch mit Guptas Erfolg zu tun habe.

Eine "dramatische Art von teilnehmendem Journalismus" entstehe so, schreibt die "Washington Post" und zitiert u.a. Stephen J.A. Ward vom Center for Journalism Ethics, der sich für einen vorsichtigen Umgang mit derart emotionsgeladener Berichterstattung aussprach, die manipulativ and undurchsichtig werden könne.

Natürlich könne man nicht kritisieren, wenn Journalisten in Notsituationen helfen, erklärte die Society of Professional Journalists (SPJ), die größte Journalistenorganisation in den USA. Aber Medienvertreter sollten nicht Teil der Geschichte sein, über die sie berichten. Selbst in Krisensituationen sei es ihre Verantwortung, Nachrichten objektiv zu sammeln und darüber zu berichten. Die Grenzen zwischen Teilnehmer und objektivem Berichterstatter dürften nicht verwischen, erklärte die SPJ. Die Glaubwürdigkeit leide, wenn man Partei werde, sich als Person in den Vordergrunde stelle oder selbst Berichterstattungsanlässe schaffe. Und wer in seiner Geschichte auftrete, um die Dramatik der Situation zu unterstreichen, bringe sich in eine Situation, in der Journalisten nicht sein sollten.

Teil der Geschichte

Berichten und Helfen, ohne Teil der Geschichte zu sein: So löste Alfred de Montesquiou von AP auf Haiti in das Dilemma, als er die unvorstellbaren Bedingungen in einem zerstörten Altenheim filmte. Mit seinem Beitrag wollte der Journalist Öffentlichkeit herstellen, damit die 84 Überlebenden möglichst schnell Hilfe bekommen. Aber die ließ auf sich warten, und so brachte er wenigstens Wasser vorbei, wie er auf Twitter und Facebook verriet. Er verzichtete allerdings wohl darauf, sich dabei filmen zu lassen.

Dass es die Nachrichten-Teams nicht unberührt lässt, wenn sie über Katastrophen und menschliches Leid berichten, ist auch ein Thema für das Dart Center für Trauma und Journalismus. Die 1999 gegründete Organisation setzt sich u.a. für eine sensible Berichterstattung über Gewalt und ihre Folgen ein und macht seit Jahren darauf aufmerksam, dass nach solchen Einsätzen auch bei Medienmitarbeitern posttraumatische Belastungsstörungen auftreten können.

Bruce Shapiro, einer der Gründer des Dart Center, wies darauf hin, dass das nicht nur die Reporter, Fotografen und Kameraleute betrifft, die tagelang zwischen Zerstörung, Chaos and und Verwesungsgeruch gearbeitet haben. Auch die Menschen in den Newsrooms und Schneideräumen werden mit Bildern konfrontiert, die sie ihren Zuschauern nicht zumuten würden. Und anders als die Teams vor Ort haben sie noch nicht mal die Möglichkeit zum Eingreifen, und sei es nur mit ein paar Flaschen Wasser. 


Corianna Blümel ist freie Journalistin und arbeitet in Köln.