Runder Tisch Heimkinder legt Zwischenbilanz vor
Die Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik hat auf breiter Linie versagt. Zu diesem Ergebnis kommt der Zwischenbericht des Runden Tisches Heimkinder, der am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Vorentscheidungen über Entschädigungen der Opfer sind bisher nicht gefallen.

Die Vorsitzende des Gremiums, die frühere Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), zog eine positive Bilanz der bisherigen Arbeit. Entscheidend sei, dass am Runden Tisch, an dem Heimkinder-Vertreter, die Kirchen, Bund und Länder sowie Experten sitzen, ein Konsens über den Zwischenbericht erreicht worden sei. Er sei "Seite für Seite" abgestimmt worden. Wertvoll sei auch die öffentliche Debatte. Das Thema sei entstigmatisiert worden. Durch den Runden Tisch werde das Leid der früheren Heimkinder auf breiter öffentlicher Basis anerkannt und bedauert, sagte Vollmer.

"Verantwortungskette" für das Versagen

Es gebe eine "Verantwortungskette" für das Versagen in der Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik. Daher müsse eine Lösung gefunden werden, zu der alle beitragen müssten. Ein Fonds oder eine Stiftung sei nicht ausgeschlossen, erklärte Vollmer. Der Runde Tisch wolle aber auch individuelle Entschädigungen prüfen. Dazu müssten aber Gesetze geändert werden, da nach geltendem Recht zivilrechtliche Ansprüche und Straftaten wie etwa schwere Körperverletzung verjährt seien.

Die Heimkinder-Vertreter begrüßten den Bericht. Strittige Fragen müssten aber nachverhandelt werden. Ihre Arbeit am Runden Tisch sei nicht einfach, sagten sie. Sie hätten aber erreicht, dass die Verfehlungen an Kindern und Jugendlichen nicht länger als Einzelfälle, sondern als Folge eines Systems anerkannt würden. Was ihnen angetan worden sei, müsse als Menschenrechtsverletzung und Zwangsarbeit anerkannt werden, forderten sie. Beides lehnt eine Mehrheit am Runden Tisch indes ab.

Rund 800.000 Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1949 und Mitte der 70er Jahre in Heimen, rund 500.000 von ihnen in kirchlichen Einrichtungen. Rund 60 Prozent der kirchlichen Heime waren in katholischer, 40 Prozent in evangelischer Hand.

"Faktisch wie psychisch geschlossene Systeme"

Oft seien die Gründe, deretwegen die Kinder ins Heim gekommen waren, "aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar", heißt es in dem Zwischenbericht. In den Heimen seien sie dann "oft rigiden, gewaltvollen und faktisch wie psychisch geschlossenen Systemen ausgeliefert" gewesen. Sie hätten keine Möglichkeit gehabt, der Heimerziehung zu entkommen "oder sich wehren oder beschweren zu können". Jugendlichen, die sich trotz des Drucks nicht fügten, sei mit immer schlimmeren Heimen gedroht worden. In diesen "Endstationen", so der Bericht, herrschten "schockierende Verhältnisse".

Zu den Erziehungsmethoden gehörten zahlreiche Strafen, Prügel, Einsperren, Essensentzug, Demütigungen etwa von Bettnässern sowie harte Arbeit in der Wäscherei, der Küche, in der Landwirtschaft oder bei der Torfgewinnung. Bei der Beratungsstelle des Runden Tisches haben sich bisher 450 ehemalige, teils schwer traumatisierte ehemalige Heimkinder gemeldet. Vollmer nannte die Zahl "eher niedrig". Die realen Opferzahlen lägen weit höher. Jeder dritte Betroffene berichte von sexuellen Übergriffen.

Bemühen um Aufarbeitung und Dokumentation gewürdigt

Vollmer würdigte die Bemühungen von Kirchen, Diakonie und Caritas, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Vielerorts gebe es Kontakte zu ehemaligen Heimkindern. Akteneinsicht, Ansprechpartner und Dokumentationen des Geschehenen seien für die Betroffenen von großer Bedeutung. Die katholische Kirche hatte zu Beginn des Jahres eine bundesweite Hotline eingerichtet.

Der Präsident des Diakonischen Werks, Klaus-Dieter Kottnik, sprach sich für eine Wiedergutmachung an ehemaligen Heimkindern aus. Es sei auch "eine finanzielle Unterstützung sinnvoll", sagte er dem epd. Diese Frage stehe im Zentrum der Arbeit des Runden Tisches in diesem Jahr. Den Zwischenbericht des Runden Tisches nannte der Diakoniepräsident "erschütternd". Ihn schmerze "dass diakonische Einrichtungen daran beteiligt waren", den damaligen "Fürsorgezöglingen" Gewalt anzutun.

Der Runde Tisch zur Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren war Ende 2008 vom Bundestag beschlossen worden, nachdem ehemalige Heimkinder in einem außergewöhnlichen Petitionsverfahren auf ihre Geschichte aufmerksam gemacht und ihre Rehabilitation sowie Entschädigungen gefordert hatten. Er soll Ende dieses Jahres seine Arbeit abschließen und dem Bundestag Empfehlungen für Entschädigungslösungen vorlegen.

epd