evangelisch.de: Ab wann kann man eigentlich von Mobbing reden? Dass Schüler sich streiten, ist doch normal.
Werner Ebner: Wenn zwei gleich starke Schüler miteinander streiten, kann man tatsächlich nicht von Mobbing reden. Mobbing setzt immer voraus, dass es ein Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Opfer und Täter oder Tätern gibt. Der Täter will an Status gewinnen, indem er einen anderen gezielt fertig macht und andere dafür benutzt. Es liegt eine Asymmetrie der Macht vor, die die ganze Klasse in eine Schieflage bringt. Für die anderen ist es ab einem bestimmten Punkt sogar gefährlich, etwas für das Opfer zu tun. Außerdem spricht man nur von Mobbing, wenn Aggressionen oder negative Handlungen gegen einen einzelnen Mitschüler über einen längeren Zeitraum stattfinden.
evangelisch.de: Wie läuft so ein Prozess des Mobbings ab?
Ebner: Das ist ein sehr schleichender Prozess. Die Wissenschaft unterscheidet fünf Phasen das Mobbings, die Grenzen sind aber fließend und zumindest die ersten drei Phasen laufen oft nahezu gleichzeitig ab. Los geht es mit einem Konflikt zunächst auf einer Sachebene. Irgendwann geht es aber nicht mehr um eine Sache, sondern allein um eine Person, die abgelehnt wird.
Eltern bagatellisieren
evangelisch.de: Kann man in diesen frühen Phasen noch eingreifen?
Ebner: Dieses frühe Stadium kann tatsächlich sehr entscheidend sein. Der Schüler braucht Unterstützung von Lehrern, Eltern oder Mitschülern. Leider wird ein Mobbingopfer gerade in so einer frühen Phase nicht ernst genommen, Eltern neigen zum bagatellisieren. Sie sagen "Das geht vorbei", aber genau das ist eben nicht der Fall.
evangelisch.de: Was passiert, wenn das Mobbing nicht schon früh unterbunden werden kann?
Ebner: Das Mobbing steigert sich. Es kommt zu Absprachen hinter dem Rücken des Schülers und Verleumdungen. Zudem wird dem Opfer die Kommunikation verweigert. Es hat gar keine Chance mehr, sich in der Klasse Gehör zu verschaffen.
evangelisch.de: Wäre ein Schulwechsel hilfreich?
Ebner: Leider nein. Ein Schulwechsel ist eine Ordnungsmaßnahme. Dass Mobbingopfer würde durch einen Schulwechsel also bestraft statt erleichtert. Im Zeitalter des Internets und der SMS ist es übrigens eine leichte Übung der Mobbingtäter, der neuen Schule von "dem Neuen" zu berichten. Das Mobbingopfer hat dann sein Image weg, bevor es dort ist.
evangelisch.de: Wie äußert sich Mobbing bei betroffenen Schülern?
Ebner: Oft fallen die schulischen Leistungen ab, zudem schwänzt das Kind die Schule, manchmal sogar mit dem Einverständnis der Eltern. Zudem entwickeln die meisten Mobbingopfer die klassischen Stresssymptome: Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Magengeschwüre. Es gibt sogar Kinder, die einen Herzinfarkt bekommen. Schlimm ist die Gefahr einer Traumatisierung. Das Kind sucht die "Schuld" bei sich, obwohl es schuldlos ist. Ein gemobbtes Kind kann auch als Erwachsener noch Beziehungsprobleme haben. Ein Mobbingopfer lebt in der ständigen Angst, nicht dazuzugehören. Dauert das Mobbing länger an, kommt es auch zu Suizidgedanken bzw. in vielen Fällen auch zum versuchten oder vollendeten Suizid.
Mobbing ist variantenreich
evangelisch.de: Wie genau werden Schüler denn gemobbt?
Ebner: Das Mobbing ist so variantenreich wie die menschliche Fantasie. Schulsachen werden beschädigt oder geklaut, das Opfer wird beleidigt oder verprügelt. Ich habe sogar mal einen Fall erlebt, wo Schüler einem Anderen in die Schultasche uriniert haben.
evangelisch.de: Haben wir es mit einem Massenphänomen zutun?
Ebner: Mobbing an Schulen ist leider tatsächlich alltäglich. Eine Online-Befragung der Universität Koblenz-Landau hat ergeben, dass wir pro Tag 500.000 Mobbingopfer an deutschen Schulen haben. Jedes Zehnte Opfer gibt an, mehrmals pro Woche gemobbt zu werden.
evangelisch.de: Werden Mädchen oder Jungen häufiger Opfer von Mobbing?
Ebner: Da gibt es eigentlich keinen Unterschied, nur die Qualität ist etwas anders. Jungen mobben in der Regel direkter, körperlicher und brutaler. Mädchen sind eher etwas "hintenrum".
evangelisch.de: Welche Schüler laufen besonders leicht Gefahr, Opfer von Mobbing zu werden?
Ebner: Das ist ein gruppendynamischer Prozess, es reicht eine gewisse Andersartigkeit des Opfers. Das können die falschen Jeans sein oder eine Zahnspange. Kinder, die hyperaktiv sind und von Mitschülern als störend empfunden werden, werden häufiger Opfer von Mobbing. Ebenso besonders stille, zurückhaltende oder überbehütete Kinder. Aber das Erscheinungsbild, physische Schwäche oder Introvertiertheit allein machen Kinder nicht zu Mobbing-Opfern. Es ist die Position, die das Kind im sozialen Gefüge der Klasse hat. So kann zum Beispiel ein physisch schwaches Kind wegen anderer Fähigkeiten in der Klasse hoch angesehen und ganz ungefährdet sein.
Klassische Täter
evangelisch.de: Wer sind die "klassischen Mobbing-Täter"?
Ebner: Die, die erfahren haben, dass sie mit Aggression zum Ziel kommen – das wird schon in der Familie angelegt. Ein Mobbing-Täter versteht es auch, zu täuschen: Er oder sie verbirgt sich vor den Lehrern als Täter, lässt stattdessen andere blöd dastehen. Man dreht es so hin, dass der Lehrer erst hinguckt, wenn das Opfer zurück schlägt. Oder man sagt zu einem Dritten: Du bist mein bester Freund, wenn Du den haust. Dieses Verhalten verstärkt sich, wenn dieses Kind nie in seine Schranken gewiesen wurde, wenn andere für seine Taten bestraft werden, am Opfer gezweifelt wird. Und wenn nie jemand ganz nachdrücklich gesagt hat: „Was Du hier machst, das läuft einfach nicht.“ Solchen Ankündigungen muss dann aber seitens der Lehrer auch absolut konsequentes Handeln folgen – sonst verstärkt man genau das Verhalten, was man eigentlich verhindern möchte.
evangelisch.de: Was können Schule und Lehrer tun, um Mobbing zu verhindern?
Ebner: Schüler müssen erfahren, wie man Konflikte ohne Mobbing lösen kann. Die Wissenschaft spricht hier von "prosozialen Lösungen." Dafür gibt es verschiedene Modelle, etwa Streitschlichter oder Mediation. Einfach nur darüber zu reden, bringt überhaupt nichts. Außerdem muss es einen Täter-Opfer-Ausgleich geben. Der Täter muss erfahren, dass sein Verhalten für ihn negative Folgen hat. Gleichzeitig erfährt das Opfer dadurch so etwas wie Gerechtigkeit. Hinzu kommen auch pädagogische Konzepte. Wenn ich einem Mobbingtäter beispielsweise ein Podium biete, auf dem er sich produzieren kann und Anerkennung findet, hat er Mobbing vielleicht nicht mehr nötig.
evangelisch.de: An wen können sich Schüler wenden, die von Mobbing betroffen sind?
Ebner: Als erstes muss man sich immer an die Schule wenden, weil nur sie das Problem letztlich so lösen kann, wie ich es beschrieben habe. Eine Psychotherapie etwa hilft einem Mobbingopfer wenig, wenn es täglich wieder in der Klasse gemobbt wird und seine seelischen Wunden dadurch immer wieder aufgerissen werden. Wenn die Schule kein offenes Ohr für das Problem hat, ist es dennoch sinnvoll Beratungsangebote wahrzunehmen, die es in jeder Stadt gibt. Außerdem gibt es die Möglichkeit, sich im Internet zu informieren und auszutauschen. Ich selbst betreibe dazu die Internetseite www.schueler-mobbing.de.
Werner Ebner ist Grund- und Hauptschullehrer und arbeitet am staatlichen Schulamt in Tübingen als Medienbeauftragter und Fachberater für neue Medien. Zudem ist er in der Lehrerfortbildung mit dem Schwerpunkt Mobbing und Internetmobbing tätig. Vor elf Jahren startete Ebner die Internetseite www.schueler-mobbing.de. Die Internetseite bietet umfassende Informationen zum Thema Mobbing, zudem können Mobbinopfer sich in einem Forum untereinander austauschen.
Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Kultur und Medien.