Evangelische Schulen: Weil keiner verloren gehen soll
Ökonomie als Schulfach? Große und Kleine in einer Klasse? Ein aufmerksamer Blick auf jedes einzelne Kind? Für all das stehen evangelische Schulen – und für manches mehr.
20.01.2010
Von Thomas Bastar

Musik dringt aus der Aula der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen: Der Literaturkurs der zwölften Klasse hat das Musical "Linie 1" des Berliner Grips-Theaters umgeschrieben und führt nun "Linie 301" auf. Die U-Bahn 301 verbindet das Zentrum Gelsenkirchens mit dem Stadtteil Bismarck, in dem die Gesamtschule liegt. Auf der Bühne deuten Bänke, Aushänge und Graffiti eine U-Bahn-Station an. Ein Jugendlicher liegt quer über eine Bank ausgestreckt da. "Der ist ja völlig betrunken!", empört sich eine Passantin, "der ist bestimmt aus Bismarck." Zwei andere Jugendliche pöbeln Fahrgäste an. Besonders auf eine junge Frau mit Kopftuch haben sie es abgesehen. "Meine Eltern sagen, ich soll Geld verdienen", erzählt die Muslimin verschüchtert. "Deshalb habe ich keinen Hauptschulabschluss und gehe jetzt putzen." Die Szene endet mit dem Lied "Zurückbleiben bitte".

Auf Gelsenkirchen-Bismarck, einen Problemstadtteil mit vielen Arbeitslosen und hohem Migrantenanteil, mag die Darstellung zutreffen. Auf die evangelische Gesamtschule kaum. Hier muss keiner zurückbleiben. Im Gegenteil: Ganz bewusst habe sich die evangelische Schule dem Stadtteil geöffnet, erklärt Schulleiter Harald Lehmann. Jeder fünfte Schüler ist Muslim und erhält auch islamischen Religionsunterricht. Ein Drittel der Schüler stammt von Einwanderern ab. Verglichen mit anderen Schulen in Gelsenkirchen ist das eher wenig. "Wir muten uns so viel an Belastung zu, wie wir tragen können", erklärt der Schulleiter. Es gehöre eben zu den Chancen einer freien Schule, sich ihre Schüler aussuchen zu können.

Neue evangelische Schulen sind besonders seit 1991 entstanden, allein in Ostdeutschland kam es in den Jahren nach der Wende zu rund 100 Neugründungen. Insgesamt gibt es mittlerweile 300 allgemeinbildende evangelische Schulen in Deutschland.

Schüler konnten ihre Gestaltungsideen mit einbringen

1998 hatte die Evangelische Kirche von Westfalen in Gelsenkirchen die fünfzügige Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe und heute mehr als 1.000 Schülern gegründet. Seitdem ist auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Consolidation ein Ensemble von Schulgebäuden entstanden, das seinesgleichen sucht: im Zentrum die überdachte Schulstraße, an die Aula, Verwaltungs- und Fachräume sowie die Schulmensa grenzen. Drum herum liegen sechs Holzbauten mit je fünf Klassenräumen. Beim Bau dieser Klassenhäuser konnten die Schülerinnen und Schüler ihre Ideen einbringen und selber mitmachen. In jedem Klassenraum kann man sich zur Gruppenarbeit auf eine Empore zurückziehen. Vor jedem Haus liegt ein Garten, den die Schüler selbst pflegen.

"Akzente setzen gegen eine Kultur des Wegschauens", will die Schule nach dem Wortlaut ihres Programms, "Charakterbildung so wichtig nehmen wie Wissensvermittlung". Schulseelsorger, Sozialpädagoge und Beratungslehrer helfen bei Problemen, Tandems aus Klassenlehrerin und Klassenlehrer begleiten die Jugendlichen von der fünften bis zur zehnten Klasse.

Offen gegenüber dem Stadtteil heißt auch: kein Zaun um die Schule. Die Folgen beklagen die Mitglieder der Teich-AG, 15 Mädchen und Jungen aus den sechsten Klassen. Immer wieder müssen sie Müll aus dem Teich nahe dem Eingangsbereich fischen und beobachten, dass Jugendliche die Wasservögel mit Steinen bewerfen. Ein Beweis der Missstände treibt in diesem Moment auf dem Wasser: eine tote Ente mit abgedrehtem Kopf. "Das war wohl ein Männlichkeitsbeweis", mutmaßt Lehmann verärgert.

Trotz allem keine Insel der Seligen

Gewalt wird nicht geduldet, Graffiti an Schulwänden werden sofort entfernt. Wenn Schüler, die permanent den Unterricht stören, zum Direktor geschickt werden, "dann falte ich das Kind zunächst zusammen", sagt Lehmann. Danach aber investiere er viel Zeit in Gespräche mit dem Schüler und seinen Eltern. Ein Junge, der eine benachbarte Gesamtschule wegen eines Einbruchs verlassen musste, hat hier kürzlich einen Hauptschulabschluss gemacht. "Das Beste in meinem Leben war der Schulwechsel hierher", sagte der Schüler bei der Abschlussfeier.

Doch auch die evangelische Gesamtschule ist keine Insel der Seligen: Häufig beobachten Lehrerinnen und Lehrer, dass sich türkische Jugendliche nur noch untereinander treffen, vor den Sommerferien haben sie sogar die Abschlussfeier boykottiert und eine eigene Türkenfete organisiert. "Da hat man schon das Gefühl des Scheiterns", sagt Lehmann. Jetzt wird an seiner Schule ernsthaft überlegt, nur noch Deutsch als Sprache der Verständigung auf dem Schulhof zuzulassen. Die meisten Eltern, auch die türkischen, seien dafür.

Oft fallen evangelische Schulen durch fortschrittliche Konzepte auf. Wie etwa das Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Schweich bei Trier, wo Mädchen und Jungen getrennt Naturwissenschaften und Französisch lernen. Oder die Matthias-Claudius-Gesamtschule in Bochum, die bis zur zehnten Klasse körperlich wie geistig behinderte Jugendliche gemeinsam mit den anderen Schülern unterrichtet.

Motto: "Keiner soll verloren gehen"

Die Melanchthonschule im hessischen Steinatal fördert ebenso wie das Gymnasium des Christlichen Jugenddorfwerks in Braunschweig hochbegabte Schüler. Die Haupt- und Realschule im mecklenburgischen Dettmannsdorf hat mit der regionalen Wirtschaft ein Modell entwickelt, nach dem schon von der fünften Klasse an die Berufsorientierung im Mittelpunkt steht. Daneben gibt es die alten humanistischen Lehranstalten wie das evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, das als Schule seit 1574 besteht, oder das Seminar-Gymnasium in Maulbronn und Blaubeuren, die Schule von Hölderlin, Mörike und Hermann Hesse.

So verschieden die Schulen sind, ein Motto eint sie: Keiner soll verloren gehen. Konfliktfähigkeit und Toleranz sollen die Schüler vor allem lernen, sagt Jürgen Frank, Leiter des Bildungsreferats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), "gerade in einer Gesellschaft, deren innere Spannungen künftig eher steigen dürften". Bei fast allen Schulen übersteigt die Nachfrage bei Weitem das Angebot an Schulplätzen. Dabei kommen jedes Jahr zehn bis zwölf neue evangelische Schulen hinzu – die meisten auf Initiative von Elterngruppen.

Kurz nach der Wende fand sich in Gotha eine Gruppe von Eltern, die eine Reformschule nach dem "Jena-Plan" gründen wollte, ein reformpädagogisches Konzept des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Prinzipien: jahrgangsübergreifender Unterricht, praxisorientiertes Lernen in Projekten, eigenverantwortliches Arbeiten, Gleichgewicht von Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier.

Schüler sollen voneinander lernen

In Mathematik und Deutsch bearbeiten die Schüler der Evangelischen Grundschule Gotha jetzt weitgehend selbstständig Aufgaben, die für jeweils mehrere Tage vorgegeben sind. Den größten Teil des Schultages verbringen sie in jahrgangsübergreifenden "Stammgruppen". Die heißen "Seepferdchen", "Mäuse" oder "Schildkröten" und sind je zur Hälfte aus Kindern der ersten und der zweiten Klasse oder der dritten und vierten Klasse zusammengesetzt. Die Idee dabei: Die Schüler lernen voneinander.

Die "Libellen", eine Stammgruppe von Dritt- und Viertklässlern, hat sich zwei Wochen lang mit altem Handwerk beschäftigt und auch ein Freilichtmuseum besucht. Nun sollen sie die Ergebnisse vortragen. Die erste Kleingruppe stellt die Schmiede vor. Auf einer "Mind Map" haben die drei Kinder Stichworte notiert. Sie zählen auf, welche Metalle schmiedbar sind und was sich aus ihnen herstellen lässt. Ein Mädchen beschreibt, wie ein Amboss funktioniert. Es gibt Beifall von allen.

Dann sind Konrad,Tim und Julius dran. "Wir hatten das Projekt Drucken", sagt Tim, etwas holprig. Die Kinder haben auf ihre "Mind Map" Bilder geklebt, erzählen von der Erfindung des Papiers, der Gutenbergbibel, von Tief-, Sieb- und Hochdruck. "Das war sehr interessant", lobt eine Mitschülerin. "Und auch Tim habe ich gut verstanden."

Tim, dem das Sprechen schwerfiel, musste die Worte seiner Mitschüler von den Lippen ablesen. Er ist gehörlos. Auch zwei geistig behinderte Mädchen gehören zu den "Libellen". Eine Sonderpädagogin unterstützt das Team aus Lehrerin und Erzieherin. Manchmal müssen die behinderten Kinder zusätzlich betreut werden, erläutert Lehrerin Heike Schramm, "doch meistens managen die Kinder das selbstständig". Rückmeldungen vom letzten Abschlussjahrgang ergaben, dass sie im Vergleich mit Schülern anderer Schulen aus der Region besser Englisch sprechen. Zudem wechseln aus der evangelischen Schule die meisten Kinder aufs Gymnasium: 80 bis 90 Prozent – gegenüber einem Thüringer Landesdurchschnitt von 40 Prozent.

Einizgartige Konzepte in Deutschland

Morgenandacht im Lichtenstern-Gymnasium in Sachsenheim bei Stuttgart: An jenem denkwürdigen Sommertag, nachdem die Deutschen aus der WM geflogen sind, kommen um 7.40 Uhr immerhin zehn Mädchen und einige Lehrer in den "Raum der Stille" zur täglichen, freiwilligen Morgenandacht. Auf Hockern sitzen sie im Kreis und lassen sich von der Lehrerin trösten. Die kommt in ihrer Andacht auf den Apostel Paulus und sein Trainingsprogramm zu sprechen: Statt "schneller, höher, weiter" seien "langsamer, tiefer, näher" die sportlichen Ziele des Christen.

Bis 2002 war das Lichtenstern-Gymnasium ein Mädcheninternat mit den Klassen 11 bis 13. Es war von der Schließung bedroht. Doch die Landeskirche setzte auf Zuwachs und gründete zusätzlich ein zweizügiges Gymnasium ab Klasse 5. Der Clou: Nicht Sprachen oder Naturwissenschaften kann man hier als Profilfach wählen, sondern Musik oder Ökonomie. Wirtschaft ab Klasse 5 – das gibt es sonst nirgends in Deutschland. In den ersten beiden Jahren haben alle Lichtenstern-Schüler zwei Stunden Ökonomie, und alle lernen ein Instrument spielen. Ab Klasse 7 müssen sie sich entscheiden: Ökonomie oder Musik.

In der 6b ist in der Wirtschaftsstunde bei Helmut Dinkel das Thema Arbeitsteilung dran. Begriffe wie "Lean Production", "Weltbank" oder "internationale Arbeitsteilung" kommen den Kindern schon leicht von den Lippen. Heute geht es um fairen Handel. Der Lehrer hat vier Fußbälle mitgebracht. In einem Rollenspiel sollen Marvin als Kunde und Jannis als Händler ein Verkaufsgespräch führen. Der Händler hat dabei die Anweisung, den Ball aus dem fairen Handelshaus Gepa anzupreisen.

Schlankere Verwaltung, unterstützender Schulträger

Doch Marvin findet den WM-Ball besser. Der Gepa-Ball sei aber für den Hartplatz geeigneter, ohne Kinderarbeit hergestellt und koste sogar noch das Gleiche, müht sich Jannis. Am Ende hat er seinen "Kunden" überzeugt. Helmut Dinkel nimmt den Ball auf und diskutiert mit den Schülern über die Herstellung von Sportartikeln in der Dritten Welt. Aber es geht nicht nur um fairen Handel und Ethik – die Schüler lernen auch die Grundlagen des Wirtschaftens: Sie vergleichen einen traditionellen Bauernhof mit einem reinen Milchviehbetrieb. Und sie besuchen Möbelgeschäfte, um deren Unternehmenskonzepte zu besprechen.

Dass evangelische Schulen neue Konzepte leichter umsetzen können als staatliche Schulen, hat mehrere Gründe. "Wir haben eine schlankere Verwaltung und unser Schulträger ist bereit, uns kräftig zu unterstützen", sagt Schulleiter Reinhard Gronbach. "Und nicht zu vergessen: Wir haben ein engagiertes Kollegium, das offen ist für Neues." Denn evangelische Schulen haben nicht nur die Freiheit, Schüler selbst auszusuchen – sondern auch Lehrer. Sie bevorzugen Lehrer mit frischen Ideen und Leidenschaft für ihren Beruf. Schüler und Eltern wissen es zu schätzen.


Dieser Bericht zu evangelischen Schulen erschien in der Ausgabe 12-2006 des evangelischen Magazins "chrismon".