Massenflucht aus der Hölle von Port-au-Prince
Das gesamte Hab und Gut, das der Familie von Telusmon Henry-Claude in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince nach dem Erdbeben geblieben ist, passt in einen Koffer. Darauf sitzen die beiden kleinen Kinder. Die Eltern müssen wohl oder übel im Stehen warten. Sie wissen nicht, wie lange sie ausharren müssen, bis endlich ein Bus kommt, der sie aus der Stadt fortbringt.
20.01.2010
Von Silvia Ayuso

Sie hatten tagelang vergeblich darauf gehofft, dass Hilfe nach Port-au-Prince gelangte. Dann entschieden sie, sich all den Tausenden von Mitbürgern anzuschließen, die die Flucht vor Zerstörung und Hoffnungslosigkeit ergriffen haben. Die Hauptstadt gleicht in diesen Tagen einem Strom von Menschen, die auf irgendeine Art das Weite suchen.

Das Entkommen ist aber nicht leicht. Nur wer viel Glück hat, findet ein Verkehrsmittel, das ihn möglichst weit fortbringt. Einige Haitianer mit US-Pässen haben sich am Flughafen versammelt in der Hoffnung, dass irgendwann mal eine Maschine kommt, die sie in die USA fliegt. Die weniger Glücklichen schleppen Koffer und Taschen die Landstraßen entlang.

Die Menge an der Haltestelle schwillt ständig an

Familie Henry-Claude schlug sich zu einer Bushaltestelle durch. Von dort, so hat man ihnen gesagt, sollen Busse nach Cap Haitien im Norden abfahren. "Unser Haus wurde vom Erdbeben völlig zerstört, wir haben praktisch all unser Hab und Gut verloren", sagt der Familienvater. "Wir stammen aus dem Norden. Dort können uns Geschwister aufnehmen, bis wir zurückkehren können."

Die Menge der Wartenden an der Haltestelle schwillt ständig an. Einige müssen den ganzen Tag ausharren, bis endlich der ersehnte Bus kommt. Kinder toben umher, Verkäufer bieten Plastikbehälter mit Wasser an. Manche Busse fahren vorbei und lassen niemanden einsteigen. "Die Fahrer bringen wohl zuerst ihre Verwandten und Freunde aus der Stadt", vermutet Esther Pierre.

"In der Provinz spürt man wenigstens den Tod nicht"

Die junge Frau schien bis vor wenigen Tagen eine blendende Zukunft vor sich zu haben. Sie besuchte eine Schule für Diplomatie und spricht mehrere Fremdsprachen. Von ihrer Schule blieb nach dem Erdbeben kaum mehr als ein Trümmerhaufen übrig. Vielleicht wird sie im nächsten Jahr wieder geöffnet, aber sicher ist das nicht. "Ich habe kein Geld und weiß selbst nicht, was ich tun soll", sagt Esther Pierre.

Für das Leben nach der Flucht macht sie sich keine großen Illusionen: "Ich hoffe nur, dass es nicht ganz so schwer sein wird wie in der zerstörten Hauptstadt. Draußen in der Provinz gibt es nicht so große Menschenmassen. Dort spürt man wenigstens den Tod nicht, und die Luft ist ein wenig sauberer."

dpa