Medizin im Minutentakt: Arztbesuche auf Rekordstand
Häufiger als je zuvor, dafür oft nur wenige Minuten lang: Eine Statistik über Arztbesuche der Deutschen zeigt einen Trend, den Experten als korrekturbedürftig ansehen.

In kaum einem anderen europäischen Land herrscht in den Arztpraxen ein so reger Betrieb wie in Deutschland. Patienten werden im Minutentakt durch die Sprechzimmer geschleust. Oft werden sie einbestellt, viele suchen den Arzt aber auch aus freien Stücken auf - und das unnötig häufig. Die Zahl der Arztbesuche ist auf diese Weise im Jahr 2008 auf die Rekordmarke von 18,1 pro Jahr geklettert (neuere Daten liegen nicht vor). Weniger als die Hälfte ist in anderen EU-Ländern normal. Im Schnitt bleiben nur acht Minuten beim Mediziner - im Schnitt hatten die knapp 150.000 niedergelassenen Ärzte im Deutschland 45 Patienten pro Werktag im Sprechzimmer. Die Arztbesuche haben damit trotz aller Gesundheitsreformen zugenommen.

Stärkere Steuerung?

Das würde sich der Barmer GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker anders wünschen. "Wir wollen uns nicht abfinden mit der (hohen) Zahl der Arztkontakte", sagt Schlenker am Dienstag bei der Vorstellung des neuen Arztreports seiner Krankenkasse. Im Schnitt habe jeder Arzt 224 Patienten pro Woche in seinem Sprechzimmer. Das zeugt für Schlenker zwar davon, dass die Leute schnellen Zugang zum Arzt bekommen. Doch er sagt auch: "Das Ganze riecht sehr stark danach, dass man eine stärkere Steuerung braucht."

Das ständige Rein und Raus im Sprechzimmer könnte nach Ansicht der Autoren vom Forschungsinstitut ISEG in Hannover vermindert werden, wenn die Praxisgebühr deutlich erhöht würde. Die Menschen könnten auch verpflichtet werden, immer zuerst zu ihrem Hausarzt zu gehen. "Deutschland hat eine sehr kleine Schwelle zum Arztbesuch", sagt der ISEG-Chef und Sozialmediziner Friedrich-Wilhelm Schwartz. Doch entsprechende Schritte wären wenig populär und würden die freie Arztwahl einschränken. Neue Zwangsregeln sind also nicht geplant.

"Wir wollen es freiwillig machen"

Dabei ist der momentane Trend aber auch nicht im Sinne der Patienten. Diese "hätten lieber längere Kontaktzeiten", so Schwartz. Viele Arztbesuche seien zudem nicht auf einen schlechten Gesundheitszustand zurückzuführen. So gingen in Bayern die Menschen bundesweit am häufigsten zum Arzt. Dort sei die Lebenserwartung aber besonders hoch, sagte Schwartz.

Kassenvertreter Schlenker sprach sich dafür aus, dass mehr Versicherte künftig öfter immer zuerst zu ihrem Hausarzt gehen und die Allgemeinmediziner die Arztbesuche insgesamt stärker steuern. Zugleich forderte er aber eine Abschaffung der gesetzlichen Pflicht der Kassen zum Abschluss von entsprechenden Hausarztverträgen mit dem Hausärzteverband. "Wir wollen es freiwillig machen."

Messung statt Gespräch

Doch steckt der Fehler manchmal ganz woanders. Ein Berliner Asthmatiker zum Beispiel wurde bei einem Lungenfacharzt bei zwei Terminen zweimal durch eine mannshohe Maschine zur Messung der Lungenfunktionen geschleust. Dabei hatte sein Hausarzt diese Werte bereits gemessen. Beim anschließenden Fünf-Minuten-Gespräch riet der Mediziner zu einer aufwendigen Behandlung der zugrundeliegenden Allergien. Skeptisch geworden suchte der Mann einen anderen Spezialisten auf. Der nahm sich eine Viertelstunde Zeit, um die Krankengeschichte zu erfragen - und riet von der Allergiebehandlung in diesem Fall als sinnlos ab.

Beispiel Schweden: Hier gehen die Menschen nur knapp dreimal pro Jahr zum Arzt. Pflegekräfte sind oft die ersten Ansprechpartner. Bei Älteren machen sie Hausbesuche, verordnen auch Medikamente und verweisen die Patienten bei Bedarf an Allgemeinärzte oder Krankenhäuser. Auch in Deutschland könnten etwa Krankenschwestern eine größere Rolle gerade bei der Versorgung älterer Menschen spielen. Das steckt jedoch noch in den Anfängen. Zwischen Kliniken und niedergelassenen Fachärzten herrscht heftige Konkurrenz um Patienten, deren Behandlung Geld bringt.

"Wenig Effizienz, falsche Anrzeize, ineffektive Konkurrenz"

Deutliche Worte fand zuletzt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Wenig Effizienz, falsche Anreize, ineffektive Konkurrenz herrsche zwischen Medizinern, Kliniken und Apothekern. So sollen laut den Experten Bezahlung und Standards zwischen Kliniken und Fachärzten vereinheitlicht werden. Für Praxisärzte fordern sie Pauschalen im Voraus statt immer neues Honorar bei regelmäßigen Einbestellungen.

Tatsächlich sind Reformen bei den Ärzten, ist eine bessere Versorgung neben der geplanten Finanzreform für die Kassen ein zweites Kernprojekt von Fachminister Philipp Rösler (FDP) und der Koalition. Radikal anderes oder gar ein stärkeres Steuern haben sich Union und FDP allerdings entgegen der Expertenforderungen bislang nicht auf die Fahnen geschrieben.

Die Ausgaben der gesetzlichen Kassen für Gesundheitsvorsorge und Verhütung von Krankheitsverschlimmerungen stiegen unterdessen auf die Rekordsumme von rund fünf Milliarden Euro. Zehn Jahre zuvor seien es knapp drei Milliarden Euro gewesen, Anfang der 90er knapp zwei Milliarden, teilte der Kassen-Spitzenverband bei der Vorstellung des Präventionsberichts 2009 mit. So gaben die gesetzlichen Kassen 2008 rund 1,76 Milliarden Euro für Impfungen aus, rund 800 Millionen für Krebs-Früherkennung, 430 Millionen für weitere medizinische Vorsorge und 370 Millionen für die Früherkennung von Zahnerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

dpa