Adoption nach dem Erdbeben: Hilfe oder Geschäftemacherei?
Das Erdbeben in Haiti hat auch Familien auseinander gerissen. Die Waisenhäuser bereiten sich auf mehr Zulauf vor. Für manche der Kinder verspricht eine Adoption ein besseres Leben - aber auch Haiti ist Teil eines weltweiten Netzes von Kinderhändlern. Denen liegt das Wohl ihres Kontos mehr am Herzen als das der Kinder. Sie geben die Kinder lieber ins Ausland ab, als nach den Eltern zu suchen, auch wenn es noch welche gibt. Hilfsorganisationen sagen, es ist besser, den Kindern vor Ort zu helfen.
19.01.2010
Von Petra Thorbrietz

Die verzweifelte Lage auf der Erdbebeninsel Haiti rührt ans Herz, vor allem das Schicksal von zwei Millionen Kindern, mehr als einem Fünftel der haitianischen Bevölkerung, die durch die Naturkatastrophe in besonders große Not geraten sind. Viele von ihnen irren hilflos durch die Trümmer der Städte, auf der Suche nach ihren Eltern und Geschwistern, hungrig und ausgetrocknet, nicht selten traumatisiert. Immer wieder beschreiben Helfer, dass sie Kinder neben ihren toten Verwandten finden, die diese nicht verlassen wollen – als könnten sie wieder zum Leben erwachen.

Da die Katastrophe am Nachmittag passierte, waren viele Familien zur Zeit des Unglücks voneinander getrennt, die Eltern in der Arbeit, die Kinder im Freien spielend oder noch in der Schule – wenn sie überhaupt so privilegiert waren, unterrichtet zu werden. Denn in diesem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre besucht jedes vierte Kind im Grundschulalter keine Schule, weil es in der Umgebung keine öffentliche gibt und sich die Eltern keine private leisten können.

Die Ärmsten der Armen schicken ihre Kinder stattdessen häufig als "restavéks", als Haushaltshilfen, in die Häuser der Wohlhabenden: 170.000 Mädchen arbeiten in solchen Abhängigkeitsverhältnissen und werden oft behandelt wie Sklavinnen, geschlagen und sexuell missbraucht. Haiti hat außerdem eine hohe Kindersterblichkeitsrate: Von 1.000 Neugeborenen sterben 76, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. Mehr als die Hälfte aller Kinder sind mangelernährt. 200.000 von ihnen haben durch Aids ihre Mutter oder ihren Vater verloren. Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince leben 2.000 Kinder ganz auf sich allein gestellt auf der Straße. Wäre es da nicht besser, dieses Elend hinter sich lassen zu können?

Amerikaner vor Ort: "Adoptionen beschleunigen"

Haiti ist seit Jahrzehnten eine der beliebtesten Anlaufstellen für Adoptionswillige. Wer in diesen Tagen die Medien verfolgt, stößt deshalb auch auf unzählige Berichte über besorgte Familien aus aller Welt, die nun fürchten müssen, nach jahrelangen Prozeduren ihr Mündel nun doch nicht zu bekommen, weil die zuständigen Richter, Anwälte und Beamte umgekommen, die notwendigen Papiere verschüttet sind. Wenn die Kinder überhaupt noch leben: Ein Waisenhaus in der Hauptstadt Port-au-Prince im Viertel Carrefour, nahe des Epizentrums des Bebens, begrub an die 500 Schützlinge unter sich, doch andere hielten den Erschütterungen stand und bereiten sich nun auf die Aufnahme neuer Kinder vor.

"Die Internationale Staatengemeinschaft muss die laufenden Adoptionsverfahren beschleunigen – egal, ob mit Hilfe des Asylrechts oder irgendeines anderen Notstandsparagraphen!" forderte der Amerikanerin Dixie Bickel gegenüber dem Fernsehsender CNN, "wir müssen die Betten freibekommen für andere Kinder, die sie dringend benötigen." Mit ihrem Mann John hatte sie 1997 nicht weit von Port-au-Prince die "God's Littlest Angels Orphanage" gegründet, eine unabhängige christliche Missionsstation, in der 152 Kinder und 84 Babys leben. Sie hofft, dass die bereits angebahnten Adoptionen durch amerikanische und kanadische Bürger trotz vieler Hürden nun beschleunigt über die Bühne gehen können,

Auch der Brite Chris Skelton, der wenige Stunden vor dem Erdbeben in Haiti ankam, um die Papiere für eine geplante Adoption zu unterzeichnen, richtete in einem Offenen Brief einen dringenden Appell an die Regierungen der Welt, Adoptionen zu beschleunigen oder neue zu ermöglichen: "Ich kann der schieren Not dieser Kinder gar nicht genügend Ausdruck verleihen", schrieb er, "die Lage ist düster, noch viel mehr Kinder werden Hilfe benötigen, und die bestehenden Waiserhäuser können das gar nicht bewältigen!"

Adoptionen grundsätzlich umstritten: "Schleusen für den Kindermarkt"

Die Außenministerien von Großbritannien, Belgien und Frankreich teilten daraufhin mit, sie können momentan keine Stellung beziehen, nur Luxemburg kündigte an, mit Hilfe des Roten Kreuzes aktiv werden zu wollen.

Dennoch hat Frankreich, das Land, das die meisten Adoptionsverfahren laufen hat, inzwischen damit begonnen, verletzte Kinder nach Martinique auszufliegen, die in französischen Familien einen Platz finden sollen. Auch die niederländische Regierung hat bereits ein Flugzeug für die über hundert Kinder geschickt, für die eine Adoption durch niederländische Eltern läuft. Wegen der katastrophalen Situation, betonte ein Sprecher des Außenministeriums, sollen die Kinder auch ohne alle erforderlichen Dokumente aufgenommen werden.

Roelie Post sieht das sehr kritisch. Die Holländerin kämpft als Mitarbeiterin der Europäischen Kommission und nun auch für die Nichtregierungsorganisation Against Child Trafficking (ACT) seit mehr als zehn Jahren gegen Kinderhandel in der ganzen Welt, und um nichts anderes, sagt sie gegenüber evangelisch.de, geht es auch auf Haiti: "Die Waisenhäuser sind nicht dazu da, sich langfristig um das Wohl der Kinder zu kümmern. Sie sind Schleusen für den Kindermarkt und bedienen die Wünsche der Adoptionswilligen."

Milliarden-Umsatz mit Kinderhandel

Post hatte nach dem politischen Umsturz in Rumänien zum ersten Mal aufgedeckt, wie kriminelle Kinderhändler Katastrophensituationen ausnutzen, um ihre Geschäfte zu machen. Nachdem die berüchtigten Waisenhäuser des Ceaucescu-Regimes geöffnet worden waren, waren in zehn Jahren mehr als 30.000 Kinder ins Ausland vermittelt worden, ohne dass überhaupt klar war, ob sie noch Eltern oder Verwandte im Land hatten. Im Gegenteil: Diese wurden am Betreten der Waisenhäuser oft gehindert. Eine Milliarde Dollar Umsatz, schätzt die ehemalige Leiterin der rumänischen Adoptionsbehörde, Theodora Bertzi, wurde dabei gemacht. Von einer gut organisierten Lobby, die unter dem Deckmantel von Adoptionen in Wahrheit eine Art von Kinderhandel betreibe, sprach damals der Politiker Günter Verheugen, heute Vizepräsident der Europäischen Kommission, und warnte vor einer systematischen "Kinderbeschaffungspolitik".

Dass auch Haiti längst Teil dieser Politik ist, zeigt ein kritischer Bericht der lokalen Zeitung "Le Matin" vom September vergangenen Jahres: 400 Kinder würden jährlich allein nach Frankreich vermittelt, 50 nach Belgien, viele weitere in die Schweiz, heißt es dort. Zwischen 1.000 und 1.500 Adoptionsverfahren werden jährlich abgewickelt, mit sinkender Tendenz, seit international unsaubere Praktiken gebrandmarkt wurden: "Viele Kinder haben nämlich Eltern im eigenen Land und werden trotzdem abgeschoben", sagt Post. "Das widerspricht einer internationalen Kinderschutz-Konvention aus dem Jahr 1993. Haiti gehört zu den wenigen Staaten, die sie nicht unterzeichnet haben!"

Nur 66 von 200 Kinderheimen als seriös bewertet

66 Kinderheime waren 2008 von dem unabhängigen "Institut du Bien Etre Social et de Recherches" (IBESR) als seriös bewertet und registriert worden, doch rund 200 solcher Heime existierten vor dem Erdbeben in Haiti und die meisten sind im Kinderhandel involviert. "Wenn sie keinen eigenen Kinder 'auf Lager' haben", zitiert Le Matin den belgischen Honorarkonsul auf Haiti, Gerrit De Sloover, "dann besorgen sie sich welche." Der finanzielle Anreiz ist groß. Die Eltern bekommen, wie in einem Fall publik wurde, 10 Euro pro Kind, die Waisenhäuser erhalten an die 100 Euro Vermittlungsgebühr. Insgesamt verdient eine Seilschaft aus Behördenvertretern, Anwälten und Vermittlungsagenturen bis zu 15.000 Euro, die adoptionswillige Eltern auf den Tisch blättern müssen.

"Hinzu kommt, dass die haitianischen Eltern oft gar nicht begreifen, was eine Adoption wirklich bedeutet", sagt Post. "Die meisten glauben, sie bekommen ihr Kind mit 18 Jahren wieder zurück. Dass eine andere Partei in alle Rechte und Pflichten als Eltern eintritt, dass die Kinder ans andere Ende der Welt verfrachtet werden, in eine völlig andere Kultur, das können sie sich einfach nicht vorstellen."

Kettelie Wash aus Port-au-Prince ist ein solcher Fall. Sie hatte, berichtet Le Matin, von Frauen gehört, die ihre Kinder in Waisenhäusern "platzieren", um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Ein weißer Pfarrer hatte ihr versprochen, sie würde ihre vierjährige Tochter Jenny mit 18 wiedersehen. Doch diese wurde in die USA vermittelt, und sie bekam nicht einmal eine Adresse mitgeteilt. Die Tochter von Lucienne Ophelia wurde mit fünf Jahren nach Deutschland geschickt, nachdem sie ein Jahr lang im Waisenhaus verbracht hatte. Inzwischen ist sie 16 Jahre und Lucienne wartet auf ihre baldige Rückkehr. Doch seit Jahren hat sie keinerlei Nachricht von ihr.

"Kinder können sich nicht selbst helfen"

"Stellen Sie sich vor, was die Kinder Haitis bei dem Erdbeben durchgemacht haben", sagt auch Maria Holz von "Terre des hommes". "Wollen Sie die jetzt noch in ein Flugzeug setzen und aus ihrem Umfeld reißen? Es müssen so viele Kinder wie möglich vor Ort unterstützt werden, etwa durch Fachleute in der Trauma-Arbeit. Das Ausfliegen einzelner Kinder muss sorgfältig geprüft werden. Was nützt es zwei Millionen Kindern in Not, wenn nur einzelne einen guten Platz finden?" Viele der entwicklungspolitschen Hilfsorganisationen, bestätigt Holz, sehen Adoptionen als schnelles Mittel der Krisenhilfe kritisch: "Im Bürgerkriegsland Ruanda suchten Verwandte jahrelang nach ihren Kindern. Die indische Regierung hat aus ähnlichen Gründen in der Tsunami-Region ein Adoptionsverbot erlassen." Die Regel der Hilfsorganisationen heißt heute eher, im eigenen Land zu helfen – so schwer das auch ist.

Denn die die "Child Traffickers", wie die Kinderhändler international genannt werden, sind sofort vor Ort, um ihre Geschäfte zu machen. Darum richten UNICEF und Hilfsorganisationen wie World Vision nun in Haiti Kinderbetreuungszentren ein, sogenannte "Child Friendly Spaces". Mädchen und Jungen sollen, sobald sich die Lage stabilisiert hat, zu ihren Familien zurückgeführt werden. "Die Versorgung von hilfsbedürftigen Kindern hat jetzt Priorität", betonte Rory Anderson, stellvertretende Direktorin für politische Anwaltschaftsarbeit bei World Vision International, gegenüber der Presse: "Sie sind gefährdet, missbraucht und ausgebeutet zu werden und können schnell verwahrlosen, da sie sich selbst nicht helfen können."


Zum Thema Adoption

In Deutschland schafft es ein Elternpaar von zehn, ein Adoptivkind zugesprochen zu bekommen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes erhielten 2008 insgesamt 4.201 Kinder und Jugendliche neue Eltern. Beinahe die Hälfte davon wurden von ihren Stiefeltern adoptiert. Ungewollt kinderlose Eltern wenden sich häufig an ausländische Institutionen, weil dort die Bestimmungen weniger streng und die Wartezeiten kürzer sind. Im Jahr 2007 kam etwa ein Drittel der in Deutschland adoptierten Kinder (insgesamt 709) aus einem anderen Land, die meisten aus Russland und der Ukraine. Weltweit führend bei Auslandsadoptionen sind die USA. In Europa liegen Italien, Spanien und Frankreich an der Spitze. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Anteil von Kindern anderer Ethnien in Schweden und Norwegen am größten.


Dr. Petra Thorbrietz ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin. Sie schreibt unter anderem für evangelisch.de.