Auf die perfekte Welt hoffen: Ernesto Cardenal wird 85
Schwarze Baskenmütze und weiße Mähne sind seine Markenzeichen: trotz kleiner Statur füllt Ernesto Cardenal einen Raum, sobald er ihn betritt. Der Revolutionär, Dichter und Theologe aus Nicaragua hat sich seine Streit- und Liebeslust bis ins hohe Alter bewahrt. Deshalb liegt er immer noch mit seiner Regierung im Clinch und bringt auf Lesereisen mit frühen "Frauengedichten" die Hörer zum Schmunzeln. Am Mittwoch wird diese "Stimme Lateinamerikas" 85 Jahre alt.
19.01.2010
Von Natalia Matter

Ernesto Cardenal wurde am 20. Januar 1925 im südnicaraguanischen Granada als Sohn wohlhabender Eltern geboren. Erste literarische Versuche, meist elegische Liebesgedichte, fallen in seine Zeit im Jesuitenkolleg. Danach studiert er Literatur in Nicaragua, Mexiko und den USA. Gleichzeitig schließt er sich der revolutionären Bewegung an, denn in Nicaragua herrscht die blutige Diktatur der Familie Somoza. 1954 entkommt er nur knapp einem Massaker.

Schon in diesen ersten 30 Lebensjahren bilden sich die drei Bezugspunkte heraus, um die das Leben Cardenals kreisen wird. "Du hast sie beieinander gelassen: Religion, Politik und Liebe", schreibt die Theologin Dorothee Sölle an ihren Freund. "Deine Liebeslieder sind politisch, Deine Psalmen erotisch." Er wird sich mit voller Kraft in dieses Spannungsfeld stürzen - mit Taten und Worten.

"Wie lange noch Herr, wirst Du neutral sein?"

Noch heute blitzt ein verschmitztes Leuchten in Cardenals Augen auf, wenn er seine frühen Liebeslieder liest. "So schön, Myriam, wie ich dich finde (...), bist du vielleicht nicht einmal (...), denn soviel Schönheit kann nicht wirklich sein." Doch ein "mystisches Erlebnis" bewegt ihn dazu, 1957 in ein Trappistenkloster in den USA einzutreten. "Die Liebe zur Schönheit der Mädchen führte mich zur Liebe zu Gott, Schöpfer aller Schönheit," beschreibt Cardenal seine Hinwendung zur Theologie.

Er studiert Theologie in Mexiko und Kolumbien, wo die Psalmen entstehen, die zu seinen wichtigsten Werken gehören. Darin klagt er Gewalt, Diktatur und Habgier an, und äußert doch Zuversicht über Gottes Schutz. Aber er erlaubt sich auch Zweifel: "Wie lange noch Herr, wirst Du neutral sein?/Wie lange teilnahmslos zusehen?"

Cardenal  predigt einen "sanften Marxismus"

1966 kehrt er nach Nicaragua zurück, wo er die christlichen Gemeinschaft von Solentiname mitbegründet. Die Kommune im Nicaraguasee wird zum Symbol aktiver Solidarität mit den Armen, im "Evangelium der Bauern von Solentiname" zu Literatur. Mit Beginn der Revolution 1977 flieht Cardenal und wird Sprecher der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN. Kurz darauf zerstören Soldaten Solentiname.

Nach dem Sieg über das Somoza-Regime 1979 wird Cardenal Kulturminister Nicaraguas. Der Vordenker der Befreiungstheologie wird zu einer der schillerndsten Figuren der sandinistischen Bewegung Nicaraguas. Er setzt sich für Alphabetisierung ein und predigt einen "sanften Marxismus". 1980 erhält er für sein Engagement den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

"Ortega hat die Ideale der Revolution verraten"

Seine Politik ist jedoch umstritten, und in der katholischen Kirche eckt sein Engagement zunehmend an. Als er beim Papstbesuch 1983 im Dom der Hauptstadt Managua mit hochgereckter Faust "es lebe die Revolution" ruft, verscherzt er es sich endgültig mit den Hierarchien. Zwei Jahre später wird er vom Priesteramt suspendiert.

In Deutschland, wo er oft für die sandinistische Sache wirbt und Lesungen hält, wird er zur gefeierten Identifikationsfigur für die Linken. Doch in seiner Heimat entfremdet er sich zunehmend von früheren Weggefährten, wie dem Revolutionsführer Daniel Ortega, der das Land derzeit wieder regiert. "Ortega hat die Ideale der Revolution verraten", sagt Cardenal verärgert. Wegen Ortegas Machtgebaren tritt er 1994 aus der damals oppositionellen FSLN aus.

Streitbar ist Ernesto Cardenal geblieben

Mit dem schrittweisen Ausscheiden aus der Politik findet Cardenal wieder Zeit zum Schreiben: Anfang der 90er beendet er "Cántico Cósmico" (Gesänge des Universums), sein Opus magnum, eine Mischung aus Mystik und Wissenschaft. Regelmäßig begibt er sich auf Lesereise - im März wieder in Deutschland - obwohl ihm die Anstrengung zunehmend anzusehen ist. Die Säle sind stets voll.

Streitbar ist Ernesto Cardenal geblieben, auch wenn er zurückgezogen in Managua lebt. So laufen derzeit mehrere Verfahren gegen ihn, weil er Ortega und seine Regierungsführung heftig kritisiert hat. Seine Konten sind gesperrt, zeitweise drohte ihm Hausarrest. Seine Hoffnung auf eine bessere Welt hat er dennoch nicht aufgegeben: "Als Christ muss ich optimistisch sein, weil das Evangelium die Herrschaft Gottes voraussagt und als revolutionärer Marxist, weil Marx lehrt, dass es auf der Erde irgendwann die perfekte Gesellschaft geben wird."

epd