In einem Land, wo auch in normalen Zeiten niemand auf die Idee gekommen wäre, bei einem Überfall die Polizei zu rufen, gehörten Pistolen, Gewehre oder zumindest eine Machete schon vor der Katastrophe vom vergangenen Dienstag zur Grundausstattung fast jeden Haushalts. Seitdem die Erde bebte und das bettelarme, zerrüttete Land vollends ins Elend stürzte, sind eh kaum noch Polizisten zu sehen. Stattdessen steht die Ankunft von US-Marines unmittelbar bevor.
Aber das kann die noch vielfach traumatisierten Überlebenden nicht wirklich beruhigen. Während die Menschen aus Furcht vor Nachbeben oder weil ihr Haus zerstört ist, im Freien campieren, horchen sie verschreckt auf nächtlichen Schießereien. Über Stunden peitschen Schüsse durch die Dunkelheit. Niemand weiß, wer sie abgibt und wem sie gelten.
Erste Anzeichen einer steigenden Spannung und Angst
Tagsüber ziehen die vielen herumirrenden Menschen immer hastiger durch die Stadt. Sie sind auch schweigsamer geworden und vermeiden Blickkontakt, erste Anzeichen einer steigenden Spannung und Angst. Auch der Autoverkehr lässt nach. Das mag an den immer schneller steigenden Benzinpreisen liegen. Aber dennoch wird auch das als ein Zeichen von Gefahr verstanden, denn im Armenhaus Haiti gelten Autobesitzer automatisch als reich und damit als potenziell lohnendes Überfallopfer, die besser die Straßen meiden.
In Laboulle, einem wohlhabenden Wohnviertel der Stadt, sind die furchteinflößenden Waffen, die sich in jedem Haushalt befinden, bereits gereinigt und geölt. Und durchgeladen. Nachbarn heben flache Gräben quer über die Fahrbahn der Straßen aus. Im Falle eines Überfalls würden die Angreifer so gezwungen, langsamer zu fahren und könnten in ihren Autos besser beschossen werden, erklären Anwohner.
"Die schiessen ein paar Leute über den Haufen - und das war's dann!"
Niemand kann genau sagen, was vor sich geht, aber die Spannung steigt stündlich und ist so spürbar, als ließe sie sich mit einem Messer schneiden. An Zündstoff mangelt es jedenfalls nicht in einer weitgehend zerstörten Stadt mit einer unbekannten aber sicherlich hohen Zahl von Toten unter tonnenschweren Trümmern. Und zwei Millionen Überlebenden, von denen viele ohne Essen und Wasser noch einem Dach über dem Kopf seit Tagen inmitten des Verwesungsgestanks der Leichen auf Hilfe warten, die nicht kommen will.
Nur Meter vom eingestürzten Präsidentenpalast entfernt gab es so heftige Übergriffe, dass die Polizei die Straßen zum betroffenen Viertel La Ville gesperrt hat. "Die bösen Jungs machen sich breit. Die schiessen auf Journalisten, auf Polizisten - auf alles und Jeden!", sagt ein Polizist. Während sich einige Retter besorgt über die wachsende Spannung in der Stadt äußern, bleibt ein französischer Helfer unbeeindruckt. Sobald das US-Militär komme, so meinte er, käme schon alles in Ordnung: "Die kommen 'rein, schiessen ein paar Leute über den Haufen - und das war's dann!", meinte er schulterzuckend.