So einzigartig, so arm: Haitis bewegte Geschichte
Politische Krisen, Gewalt, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen bestimmen seit Jahrzehnten das Leben in Haiti. Seine landschaftlichen Reize, seine reiche Kultur und lebendigen Traditionen konnten das Land nicht davor bewahren, heute das Armenhaus der Welt zu sein. Zu tief sind die Narben, die die Geschichte hinterlassen hat.
13.01.2010
Von Barbara Holt

Dabei ist das drittgrößte Land der Karibik – nach Kuba und der benachbarten Dominikanischen Republik – in mehrfacher Hinsicht einzigartig: Haiti war das einzige Land der Welt, dem es gelang, seine Kolonialherren durch einen Sklavenaufstand zu vertreiben. Die Unabhängigkeit war die erste eines karibischen Landes, und Haiti wurde die erste von einem Schwarzen geführte Nation weltweit.

Bewegt war die Geschichte Haitis schon immer. Als Kolumbus an Weihnachten 1492 vor Hispaniola strandete, lebten verschiedene Völker und Stämme auf der Insel. Die Einheimischen Taínos nannten sie "Ayiti", das "Land der hohen Berge". Nicht alle waren sie den Eindringlingen freundlich gesinnt, doch ihr Widerstand nützte nichts – diejenigen, die sich weigerten, als Sklaven in den Goldminen der Spanier zu arbeiten, wurden brutal abgeschlachtet. Mangelernährung, schlechte Versorgung, ein dramatischer Rückgang der Geburtenrate, vor allem aber die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten, löschten die Taínos fast vollständig aus, nur einigen wenigen gelang die Flucht in die Berge.

Um die Arbeit in den Minen trotzdem fortsetzen zu können, wurden Sklaven aus Afrika importiert, ab 1517 mit offizieller Erlaubnis des spanischen Königs Karl I. Während die Spanier vor allem im östlichen Teil der Insel aktiv waren, ließen sich im Westen französische Freibeuter nieder und begannen mit Tabakanbau. Bis 1660 erkannten sie die Herrschaft der Spanier nie an, was zu zahlreichen Konflikten führte.

Insel zwischen Frankreich und Spanien geteilt

Erst 1697 wurde der Streit beigelegt, indem die Insel geteilt wurde: Frankreich erhielt das westliche Drittel, geschätzte 30.000 Kolonialisten kamen aus Frankreich, um hier Kaffee, Indigo und Zuckerrohr anzubauen. Haiti wurde zur wohlhabendsten aller französischen Kolonien – ermöglicht durch die brutale Ausbeutung der importierten schwarzen Sklaven, von denen ein Drittel innerhalb weniger Jahre nach der Ankunft starb.

Die französische Revolution hatte auch in der weit entfernten Karibik Auswirkungen: 1791 erhoben sich die Sklaven im Norden der Insel, und die Sklaverei auf Haiti wurde schließlich abgeschafft. Einige Jahre später, am 1. Januar 1804, riefen ehemalige Sklaven die Unabhängigkeit Haitis aus – die einzige Nation, die aus einem Sklavenaufstand geboren wurde.

Doch so leicht gab Frankreich nicht auf. Als Gegenleistung für die Anerkennung der Unabhängigkeit und als Entschädigung für entgangene Einnahmen musste Haiti Unsummen an das ehemalige Mutterland zahlen. Armee, Oberschicht und aus Europa und Nordamerika eingewanderte Händler waren zerstritten – eine lange Reihe von Staatsstreichen folgte. Bis schließlich 1915 die Vereinigten Staaten das Land besetzten. Erst 1934 verließen sie die Insel wieder, die Macht hatte dann die von den Amerikanern installierten Nationalgarde.

Diktator "Papa Doc" Duvalier

1957 schließlich gelang es einem Mann, die Macht an sich zu reißen, dessen Name noch heute wie ein Fluch über Haiti liegt: Francois "Papa Doc" Duvalier. Der Diktator verfügte über eine private Armee und Todesschwadronen, die Tonton Macoutes, war berühmt für den Personenkult, den er um sich betrieb und berüchtigt für die ausufernde Korruption, die während seiner Amtszeit herrschte. Nach 14 Jahren Kleptokratie folgte ihm 1971 sein Sohn Jean Claude (genannt Baby Doc) in der Regierung, unterstützt durch militärische und ökonomische Hilfe durch die USA.

Viele Haitianer flohen ins Exil, vor allem in die USA und nach Kanada. Im Land selbst wurden die Proteste gegen den Diktator immer lauter und die USA sahen sich 1986 genötigt, den Duvaliers die Flucht ins Exil nach Frankreich nahezulegen. Zehntausende Menschen waren während deren Herrschaft ermordet worden.

Die Tonton Macoutes blieben auch nach der Abdankung Baby Docs brutale Schlägertuppen. Als sie im Vorfeld der für November 1987 angesetzten Wahlen Dutzende Menschen erschossen, wurden diese abgesagt. Erst 1990 wurde Bertrand Aristide mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Große Hoffnungen wurden an den ehemaligen Priester geknüpft. Doch schon ein Jahr später zwang ihn ein Staatstreich ins Exil.

Kriminalität, Drogenhandel, Korruption

Das folgende politische Chaos fand erst 1995 ein vorläufiges Ende, als Aristide wieder als Präsident eingesetzt wurde. Allerdings wurde seine zweite Amtszeit von Anschuldigungen überschattet: Wahlbetrug, Korruption und Folterungen wurden ihm zur Last gelegt. 2004 zwangen ihn ein erneuter Putsch sowie Druck aus Frankreich und den USA, sein Amt aufzugeben. Die Vereinten Nationen sandten Truppen in das notorisch instabile Land.

Und die UN-Truppen werden noch immer dringend benötigt. Zwar wurde inzwischen mit René Préval ein ordentlich gewählter Präsident eingesetzt, doch Haiti wird noch immer von Kriminalität, Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Gangs und politischen Gruppierungen beherrscht. Die Situation der Menschenrechte im Land gilt als katastrophal. Eine Infrastruktur ist so gut wie nicht vorhanden, der Drogenhandel hat die Polizei und die Justiz korrumpiert. Die soziale Ungleichheit ist horrend:. Einer verarmten kreol-sprechenden, schwarzen Mehrheit steht eine französisch-sprachige Minderheit gegenüber.Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über nahezu die Hälfte aller Güter und Besitztümer der Insel.

Überdies wird das gebeutelte Land immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht, die sich in einer geschädigte Umwelt wie der von Haiti besonders verhängnisvoll auswirken. Vor 80 Jahren war die Insel noch überwiegend von Wäldern bedeckt. Heute sind 98 Prozent dieses Urwaldes verschwunden, abgeholzt und zu Holzkohle verarbeitet. Versteppung und Erosion sind die Folge. Die Abholzung der Wälder führt dazu, dass die für die Region typischen Hurricans große Schäden anrichten: Überschwemmungen, Schlammlawinen und die Zerstörung der Felder haben in den letzten zehn Jahren Tausende Menschenleben gekostet. Die steigenden Preise für Lebensmittel und Benzin in Folge der Unwetter von 2008 führten zu weiteren politischen Unruhen, die Haiti ins Chaos stürzten.

Heute leben 80 Prozent der Haitianer in Armut, müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Das Land ist auf Hilfe von außen angewiesen, 40 Prozent des Staatshaushalts wird von Geberländern wie den USA, Kanada, der Europäischen Union sowie Venezuela und Kuba finanziert. Zur wirtschaftlich, politisch und klimatisch chronisch instabilen Lage kommt das Trauma, das die Regimes der Kolonialherren, Besatzungsmächte und einheimischen Diktatoren dem Land zugefügt haben. Und auch wenn die meisten Haitianer stolz sind darauf, dass ihre Nation einst durch die erfolgreiche Rebellion von Sklaven gegründet wurde – das nackte Überleben steht heute für die Mehrheit der Bevölkerung Haitis im Vordergrund.

Naturkatastrophen der letzten Jahre:

1963: Mehr als 8.000 Menschen werden durch den Tropensturm Flora getötet.

1994: Hurricane Gordon – Fast 1000 Haitianer werden von einer Schlammlawine begraben, ausgelöst durch Hurricane Gordon in Verbindung mit der Abholzung der Wälder

1998: Hurricane Georges fordert 600 Opfer, 80% der Felder werden zerstört

Mai 2004: Mehr als 3000 Menschen werden bei Überschwemmungen im Süden der Insel getötet

September 2004: Der Tropensturm Jeanne trifft die Nordküste und verursacht Überschwemmungen und Schlammlawinen. Mehr als 3000 Menschen verlieren ihr Leben

August/September 2008: Gleich vier Hurricans hintereinander – genannt Fay, Gustav, Hanna und Ike – innerhalb von nur vier Wochen bringen durch starke Winde und Regenfälle und hinterlassen ein verwüstetes Land. Mehrere hundert Menschen werden getötet, fast 23.000 Häuser zerstört, 800.000 sind auf humanitäre Hilfe von außen angewiesen. Nahrungsmittel- und Spritpreise steigen an, was zu politischen Unruhen führt

Januar 2009: Ein Erdbeben der Stärke 7.0 erschüttert Haiti

Republik Haiti
Hauptstadt: Port au Prince
Lage: Karibik, Große Antillen. Westlicher Teil der Insel Hispaniola, den östlichen Teil bildet die Dominikanische Republik. 80 Kilometer südöstlich von Kuba
Größe: 27.750 qkm, das entspricht etwa der Größe Belgiens
Klima: tropisch
Geografie: bergig, höchster Punkt: Chaine de la Selle, 2.680 m
Bevölkerung: 10 Millionen (UN 2009), plus ca. 4 Millionen im Ausland lebende Haitianer (vor allem in den USA und Kanada)
Sprachen: Kreolisch (gesprochen von ca. 98 Prozent der Bevölkerung), Französisch (gesprochen von ca. 10 Prozent der Bevölkerung)
Religionen: Ca. 80 Prozent Katholiken, 15% Protestanten, 5 Prozent sonstige Religionsgemeinschaften, unter anderem der verbreitete Voodoo-Kult (über 90 Prozent)
Lebenserwartung: Männer 59 Jahre, Frauen 63 Jahre (UN)
Alphabetisierungsrate: 65,9%
Exportgüter: Kaffee, Öl, Mangos
Regierungsform: Präsidialrepublik
Unabhängigkeit: 1. Januar 1804