Zuwarten als Erfolgsstrategie: Der Führungsstil der Kanzlerin
Angela Merkel kann nur Angela Merkel: Die Koalition streitet, ihr eigener Führungsstil wird kritisiert und diskutiert - die Kanzlerin schweigt. Alles andere wäre der preußischen Pfarrerstochter und Späteinsteigerin in die Politik auch wesensfremd.
13.01.2010
Von Hajo Schumacher

"Zuerst ordnet man seine Gedanken.
Dann ringt man mit sich, ob man es macht oder nicht.
Das ist die Haderphase.
Und dann ist es entschieden."

                                                            Angela Merkel

Ach ja, mal wieder die Führungsdebatte. Die ist ungefähr so neu wie das ewig junge Sommerloch-Thema, ein paar Bundesländer zusammenzulegen. Und genau so vergeblich. Die Diskussion um ihre Chef-Qualitäten dauert exakt so lang wie die Amtszeit Angela Merkels. Die Kanzlerin hat schon immer so geführt wie derzeit, defensiv bis zu scheinbarer Lethargie. Und sie hat damit am Ende immer Erfolg gehabt. Daher wird sie ihren Stil auch nicht ändern. Wie auch?

Angela Merkel kultiviert den Trotz

Angela Merkel kann nur Angela Merkel. Bemerkenswert ist allenfalls die Gelassenheit, mit der sie den medialen und innerparteilichen Druck aushält. Vorgänger Schröder hätte längst eine Reihe symbolischer Basta-Auftritte hingelegt; nicht, um tatsächlich zu entscheiden, sondern um den Eindruck machtvollen Entscheidens zu erzeugen. Angela Merkel ist anders. Sie kultiviert den Trotz. Sie scheint ihren Widerstand gegen die Kritiker sogar zu genießen. Das ist die emotionale Seite.

Rational kann die Naturwissenschaftlerin ihren Führungsverzicht sogar begründen. Denn zum einen stellt sich die unlösbare Frage, wie sich Führung eigentlich wirkungsvoll demonstrieren lässt: Soll sie ein generelles "Basta" versuchen, auf die Gefahr hin, dass die Koalitionäre schon am nachfolgenden Tag weiterstreiten und die Chefin der Lächerlichkeit preisgeben? Soll sie sich auf das verminte Terrain der Steinbach-Debatte begeben, die CSU und FDP hingebungsvoll in die Länge ziehen? Soll sie sich in einen künstlichen Steuerstreit einschalten, obgleich die neue Regierung gerade erst neue Gesetze beschlossen hat?

Faszination und Abscheu für das Plustern der anderen

Das Kundus-Drama hat ihr doch gezeigt, dass sich auch größere Aufgeregtheiten relativ bald von allein wieder beruhigen. Festlegungen wären viel zu riskant für die Sicherheitstechnikerin, die die politischen Sprengsätze seit jeher gerne den anderen überlässt. Führen, das bedeutet Festlegen. Und Festlegen bedeutet wiederum neue Reibereien. Die aber kann die Union vor der wichtigen NRW-Wahl im Mai nicht gebrauchen. Also lieber Zuwarten.

Nicht-Führen erscheint Angela Merkel derzeit als das geringste Risiko. Sollen die anderen doch Dampf ablassen; das ist normal nach einer Bundestagswahl, die immense Erwartungen wachsen ließ, die naturgemäß in den Monaten danach enttäuscht werden. Fakt ist: Derzeit gibt es gar nicht soviel zu entscheiden, wie es den Anschein hat. Daher verharrt die Kanzlerin lieber in der Haderphase.
Ihr distanzierter Blick auf das selbstreferentielle politische System ist das Privileg derer, die spät dazukamen. Noch immer betrachtet die Physikerin, die erst seit 20 Jahren Politik macht, das Plustern von Seehofer, Westerwelle und den anderen mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Aber mitmachen mag sie nicht.

Mediales Dauertheater, politisches Spiel? Nichts für Merkel

Sie kann kühl analysieren, strukturieren, operationalisieren, Probleme in Abläufe übersetzen, Lösungen finden. Aber das mediale Dauertheater kann sie nicht. Sie empfindet es wohl auch unter ihrer Würde, als unangemessen. Angela Merkel, die das zweite Leben nach der Wende als Geschenk begriffen hat, fehlt die Lust am politischen Spiel. Unnötiges Risiko ist ihr zuwider. Sie weiß eben, wie das ist, wenn man mit seinem Leben plötzlich vor einem Abgrund steht und nicht die geringste Ahnung hat, wie es morgen weitergeht. Sie kann mit diesem Gefühl umgehen, dass vom einen auf den anderen Tag nichts mehr stimmt und dennoch einiges gut wird.

Bei der Kanzlerin dominiert kühles preußisches Pflichtbewusstsein. Aus der Tradition der alten und jungen Fritzen hat sie ihr Bekenntnis zum Dienen entliehen, mit dem sie ihre Kanzlerschaft begann. "Wenn Politik versucht, Erwartungen zu wecken für alles und jedes, dann folgt daraus Enttäuschung. Eine Konzentration auf das, was Politik bedeutet, kann dazu führen, dass es wieder weniger Enttäuschungen gibt."

Distanzierter Stil - sportlicher Aufstieg

Sie ist mit diesem distanzierten Stil, der oftmals befremdlich wird, immer gut gefahren. In nur fünfeinhalb Jahren wuchs sie von der Übergangsvorsitzenden zur Kanzlerin. Eine Sensation. Einen solchen Aufstieg hat es im festvermachteten Deutschland noch nie gegeben.

Mit Fortune allein ist der Weg dieser Frau nicht zu erklären. Es war eine echte sportliche Leistung. Bei ihrem Aufstieg hat sie ein ganzes Kabinett voll bundesrepublikanischen Spitzenpersonals hinter sich gelassen, das wild entschlossen war, sie zu meucheln.

"Sie lernt schneller, als andere denken", erklärt Laurenz Meyer, der ehemalige Generalsekretär der CDU. Er schiebt die Hand über den Tisch, als bewege er einen Staubsauger und sagt: "Sie hat alles aufgesogen, was sie lesen, hören, sehen konnte. Ihr entging nichts." Daraus hat sie mit dem kühlen Blick der Naturwissenschaftlerin Schlüsse gezogen, Regeln und Prioritäten abgeleitet, denen sie konsequent gefolgt ist. Denn sie hatte ein Ziel: Erfolg.

Erfolg als Lebensversicherung - und Spaßbringer

Kein Politiker ist annähernd so erfolgsorientiert wie Angela Merkel. Erfolg, das war seit jeher eine Lebensversicherung für sie. Das elterliche Pfarrhaus stand stets im Visier der Staatsmacht, so wie alle christlichen Betriebe in der DDR. Erfolg schützte, Erfolg machte unangreifbar. Gute Leistungen in der Schule waren Pflicht. "Wenn du gut bist, kann dir keiner etwas anhaben", schärfte ihre Mutter ihr ein. Wer prima Noten vorweisen konnte, an dem kam auch die DDR nicht vorbei.

Angela Merkel beschloss, dass es ihr Spaß machte, Erfolg zu haben. Lernen fiel ihr ohnehin leicht. Bildung galt nicht als Last im Pfarrhaus, eher als Weg zu innerer Freiheit. Physik studierte sie aus Ehrgeiz, weil sie sich das in der Schule ungeliebte Fach doch noch erschließen wollte.

Spätestens seit sie der frühere CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble 1998 zur Generalsekretärin machte, hat sie auch in der Politik jede Minute darauf verwendet, ihre Erfolgsaussichten zu verbessern. Sie hat die Geschichte der CDU inhaliert, sie hat den Führungsstil Helmut Kohls, die Fehler Gerhard Schröders analysiert. Und sie hat begriffen, dass diese Partei, die nicht ihre ist, sie nur erträgt, solange sie Siege bringt. Sie ist verdammt zu gewinnen. Auf lange Schonfristen kann sie sich nicht verlassen.

Niederlagen delegieren, Erfolge monopolisieren

Der nächste Prüftermin für ihre Strategie steht bereits an, die NRW-Wahl im Mai. Paradox aber wahr: Angela Merkel weiß schon jetzt, dass sie fast nicht verlieren kann. Gewinnt Jürgen Rüttgers mit seiner sozialdemokratisierten CDU, dann war es richtig, dem Drängeln der FDP nicht nachzugeben. Verliert der Parteifreund, ist sie einen weiteren Rivalen los. Warum also Festlegen auf Positionen, die ihr schon in fünf Monaten zum Verhängnis werden können? Noch immer gilt die Maxime: Niederlagen delegieren, Erfolge monopolisieren.


Dr. Hajo Schumacher, geb. 1964, studierte Journalistik, Politologie und Psychologie und promovierte mit einer Arbeit über politische Führungsstrategien von Angela Merkel. Nach langen Jahren als Politikredakteur bei verschiedenen Magazinen arbeitet er heute als freier Journalist, Moderator und Buchautor.