"Sie sind schreiend und betend durch die Straßen gelaufen"
Der Koordinator der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti, Michael Kühn, befürchtet eine große Zahl von Todesopfern durch das schwere Erdbeben. Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince seien zahlreiche Häuser eingestürzt, sagte der 48-Jährige, der seit zehn Jahren in Haiti lebt, in einem Telefongespräch. Darunter seien auch große Gebäude wie der Präsidentenpalast, Ministerien, Supermärkte und Schulen gewesen. Da es eine Stunde nach dem Beben dunkel wurde und auch das Telefonnetz zusammenbrach, sei es schwer, sich einen Überblick über die Lage im Rest des Landes zu verschaffen.
13.01.2010
Die Fragen stellte Wolfgang Duveneck

Frage: Ist Ihnen etwas über Opferzahlen bekannt? Es wird von möglicherweise vielen tausend Toten berichtet.

Michael Kühn: Also ich hab Tote auf der Straße gesehen. Und auch viele Verletzte. Und ich kann mir vorstellen, dass die Opferzahlen in die Tausende gehen. In Port-au-Prince leben knapp zwei Millionen Menschen, die meisten davon unter ärmlichen Bedingungen. Ich gehe davon aus, dass die Zahl erschreckend hoch sein wird. Über den Rest des Landes wissen wir bislang noch wenig.

Frage: Sie selbst sind in Port-au-Prince?

Kühn: Ja, wir haben unser Büro in Port-au-Prince. Wir haben auch Büros im Norden des Landes. Aber ich hab es noch nicht geschafft, mich telefonisch mit allen Kollegen im Norden in Verbindung zu setzen.

Unter Betondecken begraben

Frage: Wie haben die Menschen reagiert?

Kühn: Sie sind schreiend und betend durch die Straßen gelaufen. Redeten zu Gott, dass sie es überlebt haben und gingen auf die Suche, denn die Telefonleitungen waren alle tot. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg, um herauszufinden, was mit ihren Familienangehörigen passiert ist.

Frage: Wie viele Mitarbeiter der Welthungerhilfe sind in Haiti?

Kühn: Wir haben insgesamt 120 lokale Mitarbeiter und sieben internationale. Von einigen weiß ich, dass es ihnen gut geht. Aber ich weiß auch, dass viele lokale Mitarbeiter nach ihren Familien suchen und wahrscheinlich die Nacht damit verbringen, zu Fuß zu ihren Familien zu kommen und zu gucken, ob die Häuser noch stehen und wie es ihren Angehörigen und Freunden geht.

Frage: Wodurch sind die Opfer, die Sie gesehen haben, zu Tode gekommen ?

Kühn: Durch eingestürzte Mauern. Wenn zum Beispiel in den ärmlicheren Einkaufsgegenden die Wände oder Decken einstürzen und die Leute davon begraben werden, dann sind sie in der Regel tot, weil es Betondecken sind. Das ist unheimlich schweres Material. Das sind die Menschen, die wir heute am späten Nachmittag gesehen haben.

Hilfe zu organisieren wird "eine ganz große Herausforderung"

Frage: Wie leben Sie selbst?

Kühn: Ich hab ein kleines Häuschen in den Bergen und das Gefühl, dass wir hier relativ weniger abbekommen haben, weil das Epizentrum im Meer war. Mein Eindruck ist, dass die Küstenregionen stärker betroffen sind als die bergige Region. Das kann täuschen, aber die Häuser, die ich hier gesehen habe, stehen alle noch. Es sind meist ältere Mauern und auch kleinere Häuser, die schlecht gebaut waren, eingefallen. Aber wir haben uns, wie gesagt, noch keinen Überblick verschaffen können, was wirklich passiert ist.

Frage: Wie läuft denn die Rettung der Menschen ab. Sind dort Feuerwehren und Rettungsdienste mit Räumgerät unterwegs, so wie man es von anderen Regionen kennt?

Kühn: Es ist anders. Es ist Handarbeit. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern: Vor einem knappen halben Jahr ist hier eine Schule eingestürzt und es hat 120 Tote gegeben. Die Kinder wurden mit der Hand ausgegraben. Also es ist genau dass, was hier fehlt. Wir haben zwar die Vereinten Nationen hier und die haben natürlich Räumgeräte, aber die müssen auch erst einmal durchkommen. Sie können sich die Situation auf den Straßen gar nicht vorstellen. Die Leute schlafen jetzt auf den Straßen. Sie trauen sich nicht mehr in die Häuser und blockieren damit die Straßen. Es ist einfach auch ein bisschen gefährlich im Augenblick, hier durch die Gegend zu fahren. Die Hilfe wird organisiert werden müssen, und das ist in diesem Land eine ganz große Herausforderung.

dpa