Warum kommt das Angebot aber erst jetzt, obwohl doch schon seit 2002 öffentlich über die Misshandlung diskutiert wird? Hans Langendörfer, Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, erklärt: Viele Betroffene fühlten sich stigmatisiert, nicht in der Lage über das Erlebte zu sprechen. "Die vergangenen Monate haben aber gezeigt, dass nun Gesprächsbedarf bei den Betroffenen da ist. Die Zeit des Schweigens ist vorbei."
Geschätzt wird, dass in den 1950er bis 1970er Jahren rund 800.000 Kinder in staatlichen Obhut aufwuchsen. Rund 500.000 Heimplätze gab es in dieser Zeit, etwa die Hälfte gehörten zur Trägerschaft der Kirchen. Etwas mehr als die Hälfte der Plätze – 250.000 bis 300.000 – und mindestens genauso viele Kinder wurden unter der Aufsicht der katholischen Kirche groß – oftmals mit "Entzug von Vergünstigungen, Essensentzug, Isolierung, körperliche Züchtigung und Misshandlungen", so heißt es im vorläufigen Bericht der Universität Bochum, der die Dokumente der Vergangenheit im Auftrag der katholischen Kirche auswertet.
Leid von denen, die sich christlichen Geboten verschrieben haben
Während in anderen Heimen häufig Kriegsheimkehrer die Obhut über die Kinder hatten, wurden sie in den katholischen Einrichtungen in der Regel von Ordensschwestern betreut. Wie aber konnte solches Leid – Gewalt, Hunger, Demütigung – gerade von denjenigen ausgehen, die sich den christlichen Geboten wie der Nächstenliebe und Sanftmut verschrieben hatten? Sara Böhmer, Generalpriorin der Dominikanerinnen von Bethanien, versucht eine Erklärung: Die geringen Mittel – zwei Mark pro Tag pro Kind –, der hohe Druck der Betreuerinnen wegen der vielen Kinder pro Person und die damaligen Vorstellungen, dass Frauen per se gute Mütter seien, weil sie als Mütter geboren wurden, seien Erklärungsansätze. "Aber natürlich ist das keine Entschuldigung."
Der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH) sieht in dem Angebot nur "einen Tropfen auf den heißen Stein" und bewertet die Erfolgsaussichten skeptisch. "Bei den Betroffenen herrscht ein großes Misstrauen gegenüber kirchlichen Institutionen, deshalb wird es eine Hemmschwelle geben dort anzurufen", sagte VEH-Sprecher Dirk Friedrich der dpa. Er selbst habe jahrelang in einem katholischen Kinderheim gelebt: "Wir wurden bis aufs Blut zusammengeschlagen. Manchmal hat die Gruppennonne einem im Vorbeigehen ins Gesicht geklatscht - einfach so."
Ordensvertreterin Sara Böhmer gab zu, es sei verständlich, wenn jemand die Hotline nicht nutzen wolle, "aus Angst, gewissermaßen wieder an die zu geraten, die ihnen das damals angetan haben". "Aber wie sollen wir sonst Angebote machen? Wir können das ja nur als Katholiken tun", meinte sie.
Hotline ab 13. Januar montags, mittwochs und freitags erreichbar
Die Misshandlungen ehemaliger Heimkinder sind auch Thema der Politik. Seit Februar 2009 tagt mit Abständen ein Runder Tisch in Berlin, an dem ehemaligen Heimkinder, Vertreter von Bund, Ländern, Kirchen und der Jugendhilfe gemeinsam beraten. Dabei geht es laut der Vorsitzenden und ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages Antje Vollmer (Grüne) um Entschuldigungen und die Frage, ob eine Entschädigung der Ex-Heimkinder möglich ist. In der kommenden Woche tritt der Runde Tisch erneut zusammen.
Die Hotline für ehemalige Heimkinder ist ab dem 13. Januar 2010 freigeschaltet. Montags, mittwochs und freitags von 9 bis 18 Uhr erreichen Betroffene – unabhängig ihrer Konfession oder Weltanschauung – die Mitarbeiter unter 0180/41 00 400 (20 Cent pro Anruf aus dem deutschen Festnetz). Weitere Informationen und Online-Beratung gibt es auf der Homepage der Hotline, www.heimkinder-hotline.de.
Maike Freund ist freie Journalistin aus Dortmund und schreibt unter anderem für evangelisch.de.