Jahr der Artenvielfalt: "Natur ist nicht unsere Ressource"
Die Erde ist seit tausenden Jahren im biologischen Ungleichgewicht, der Mensch beutet Tiere und Pflanzen aus. Um die bedrohlichen Folgen dieser Entwicklung abzuwenden, haben die Vereinten Nationen (UN) das Jahr 2010 zum "Internationalen Jahr der biologischen Artenvielfalt" ausgerufen. Zum Auftakt forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Trendwende im Artenschutz: "Jetzt unmittelbar und nicht irgendwann." Den Schlüssel zur Umkehr findet der Theologe, Biologe und Philosoph Rainer Hagencord im biblischen Schöpfungsbericht. Für den Gründer des Instituts für Theologische Zoologie in Münster ist der Mensch als Krone der Schöpfung ein Missverständnis - und der eigentliche Schöpfungsauftrag noch nicht erfüllt.
11.01.2010
Von Kathrin Althans

evangelisch.de: Am Montag wurde das von den Vereinten Nationen (UN) ausgerufene "Internationale Jahr der biologischen Vielfalt“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Umweltminister Norbert Röttgen (beide CDU) im Naturkundemuseum in Berlin feierlich eröffnet – wie man hört, im Dinosauriersaal, also unter den Skeletten der ausgestorbenen Arten. Ist das Ihrer Meinung nach der richtige Ort für diesen Auftakt?

Rainer Hagencord: Da ist die Frage, was die Hermeneutik dahinter ist. Wenn es verstanden wird als Warnung, dass wir nicht als Homo Sapiens mal genau so enden wie die, unter deren Gerippe wir da stehen, dass es deswegen wichtig ist auf die Biodiversität zu achten, dann wäre das natürlich sehr interessant und auch eine spannende und hilfreiche Hermeneutik. Ansonsten könnte ich mir bessere Orte dafür vorstellen.

evangelisch.de: Zum Beispiel?

Hagencord: Warum nicht Zoologischer Garten und dort am Gehege der vom Aussterben bedrohten Grevyzebras oder der Kanada-Bisons? Also da wo wir sehen können: Es gibt noch großartige Lebewesen, großartige Säuger, Vögel, Reptilien, und um deren Erhalt steht es nicht gut. Und um sozusagen Pate zu stehen für diese Tiere stellen wir uns hier im Zoo an deren Seite.

Wertschätzung für das Leben

evangelisch.de: Was erhoffen Sie sich, als theologischer Zoologe, als Theologe und Biologe, vom Jahr der biologischen Vielfalt?

Hagencord: Eine neue Wertschätzung für das Leben vor der Haustür. Zur biologischen Vielfalt gehören auch unsere Haustiere, dazu gehören auch die Tiere, für die wir hier in Europa verantwortlich sind, bis zu den Tieren, die in der Massentierhaltung vor sich hinvegetieren. Und der zweite Punkt ist ein neues Augenmerk auf die globalen Zusammenhänge. Unser immer größer werdender Fleischkonsum ist mit ein Grund dafür, dass in Brasilien die Regenwälder abgeholzt werden; dort werden dann Sojafelder angelegt, um hier in Europa und Nordamerika die Tiere mit diesem Soja zu füttern. Diese beiden Dinge halte ich für wichtig, wenn es um biologische Diversität geht, um Arterhalt, um neue Wertschätzung für die Tiere, für die wir Verantwortung haben, und deren Lebensräume.

evangelisch.de: Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, um die derzeitige Entwicklung zu stoppen?

Hagencord: Ich glaube, der erste Punkt ist deutlich das Konsumverhalten. Hier gilt es deutlicher zu machen, dass unser Fleischkonsum – und vor allem das Greifen nach Billigfleisch - überhaupt nicht mehr zu verantworten ist. Und der andere Punkt: Schon beim Einkauf von Möbeln bis hin zu Gold darauf zu achten, wie diese Produkte hergestellt werden. Haben sie ökologische Gütesiegel, kann ich die als verantwortlicher Konsument kaufen?

evangelisch.de: Also durchaus die individuellen Ansätze: Was bewirkt der Einzelne …

Hagencord: Das wär das eine. Und der andere Punkt wäre natürlich Druck – ich glaube, dass das so sein muss, Druck auf die Politik zu machen: Was kann auch im Hinblick auf europäische Gesetzgebung, im Blick auf die EU-Subventionen für die Landwirtschaft getan werden, welche Partei steht da für einen Abbau dieser Subventionen? Hier muss auch Politik über das persönliche und private Einkaufsverhalten hinaus aktiv werden.

evangelisch.de: Nun wird ja anlässlich dieses erneuten Aufrufs zum Artenschutz auf die Folgen für den Menschen aufmerksam gemacht. Da ist zum Beispiel auch von Dienstleistungen der Ökosysteme für den Menschen die Rede, weil wir ja letztlich Nutzen ziehen aus den natürlichen Ressourcen. Da steht wieder der Mensch als Nutznießer im Mittelpunkt, und mitunter geht es um knallharte ökonomische Motive. Ist das in Ihren Augen überhaupt ein Motiv für den Artenschutz?

Hagencord: Ich glaube, dass das tatsächlich ein Zugang ist, um Veränderungen des Verhaltens zu erzielen. Damit verbunden ist aber tatsächlich die Ökonomisierung der Natur, und da muss ich natürlich als Theologe und Philosoph auch sagen: Die Natur zur puren Ressource zu degradieren, macht einen Anthropozentrismus stark, der für mich eigentlich nicht haltbar ist. Die Natur ist nicht unsere Ressource, sondern wir sind Teil der Natur und wir können ohne die Natur nicht leben.

Schöpfung ist nicht nur Sonne, Mond und Sterne

evangelisch.de: Gibt es theologische oder biblische Argumente, die sich für den Artenschutz ins Feld führen lassen?

Hagencord: Ja, die wirklich immer wieder angeführte Stelle: Macht euch die Erde untertan, herrscht über die Tiere (1 Mose 1,28). Diese Stelle ist ja in der Neuzeit im Grunde absolutistisch uminterpretiert worden, in dem Sinne, dass man das als einen Freibrief gelesen hat: Wir können mit der Natur, den Tieren, machen was wir wollen. Ein Blick auf diese Texte und den historischen Hintergrund macht sehr klar, dass diese Begriffe: "herrschen über" und "untertan machen" eindeutige Verantwortungskategorien nach sich ziehen. Der Mensch ist insofern von der Natur und von den Tieren herausgenommen, als er das einzige Geschöpf ist, das Verantwortung übernehmen kann für die Tiere und die Natur.

Deswegen ist biblisch gesehen hier der erste Punkt zu sagen: Der Mensch hat Verantwortung zu übernehmen. Das macht ihn dann – und das ist der zweite Punkt – zum Ebenbild Gottes. Und damit verbunden der Imperativ: Mensch, verhalte dich so, dass die Welt an deinem Verhalten erkennen kann, wie Gott sich insgesamt zur Natur verhält. Insofern sollst du mich vertreten. Wenn wir also Schöpfungsbewahrung ernst meinen als Christinnen und Christen, dann kann das nicht nur Sonne, Mond und Sterne sein, sondern dann ist das auch das Fleisch, das da in der Fleischtheke liegt.

evangelisch.de: Und was ist, andersherum betrachtet, falsch gelaufen aufgrund dieser Fehldeutung?

Hagencord: Die Natur, die Tiere im Grunde zu reduzieren zur Ressource; zu denken, es gibt diese gesamte Welt eigentlich nur um unseretwillen – und das, glaube ich, kann man so nicht sagen. Oft wird in diesem Zusammenhang nochmals auf den ersten Schöpfungsbericht zurückgegriffen: Ja, der Mensch ist doch die Krone der Schöpfung. Aber der erste Schöpfungsbericht sagt genau das Gegenteil, die Krone der Schöpfung ist der Sabbat, die Schöpfung läuft nicht auf den Menschen hin, sondern auf diesen einen Tag der Ruhe, an dem die Schöpfung insgesamt existiert, und zwar in Frieden existiert. Für den Menschen an sich ist noch nicht mal ein eigener Schöpfungstag vorgesehen. Der ist mit den Tieren zusammen geschaffen worden. Also daraus kann man weder die These ableiten, der Mensch sei Krone der Schöpfung, noch kann man sagen, der Mensch ist eindeutig übergeordnet und kann die Natur missbrauchen.

evangelisch.de: Andererseits leben wir ja von den Pflanzen und Tieren als Lebensgrundlage – ein Nutzen und Verbrauchen ist da vorgegeben. Wie könnte ein Zusammenleben von Mensch und Tier auf der Erde aussehen, das beiden Rechnung trägt?

Hagencord: Das Stichwort muss im Grunde Respekt sein, und Ehrfurcht vor allem Lebendigen. Sie haben völlig Recht, wir können nicht ohne die Tiere leben, auch wenn alle Vegetarier würden, bräuchten wir dennoch tierische Produkte, um überleben zu können. Und aus dieser Einsicht in die Abhängigkeit müsste die Haltung der Dankbarkeit die Konsequenz sein. Damit verbunden ist eine hohe Achtsamkeit auf die Lebenswirklichkeit, auf die Haltungsbedingungen der Tiere und auf die Möglichkeiten die wir als Verbraucherinnen und Verbraucher haben, um hier alles zu tun, dass die Tiere nicht behandelt werden, als wäre es Steinkohle, die man so abbaut.

evangelisch.de: Sie betonen, zum Beispiel mit dem gemeinsamen Schöpfungstag, auch die Verwandtschaft von Mensch und Tier – können Sie da ein Beispiel nennen, das die Wichtigkeit dieser Beziehung verdeutlicht?

Hagencord: Da fallen mir zunächst mal verhaltensbiologische und evolutionsbiologische Fakten ein, die in der Tradition von Charles Darwin sagen: Es gibt letztlich keinen Qualitätsunterschied zwischen Mensch und Tier, die Übergänge sind fließend, also gradueller Natur. Und das ist sozusagen die Überschrift über dem, was Biologie sagt über Bewusstsein, Emotionen, Denkvermögen, Kulturfähigkeit von Tieren. Da sind die höheren Primaten oder auch die Meeressäuger uns sehr nahe, was die Fragen von Selbstbewusstsein, Denkvermögen und emotionaler Intelligenz betrifft.

Der Mensch als betendes Tier

evangelisch.de: Also den qualitativen Sprung vom Menschen zum Tier gibt es evolutionsbiologisch eigentlich nicht.

Hagencord: Vielleicht ist das einzige Kriterium, das sagt auch die Soziobiologie im Moment, unsere Fähigkeit der Transzendenz. Es gibt ein Buch, "Der Mensch, das betende Tier", in dem das vielleicht deutlich wird. Wir sind vielleicht die einzigen auf diesem Planeten, die über die Fragen nachdenken: Was ist im nächsten Jahr, was ist nach meinem Tod - also die Transzendenz suchen und damit auch die Sinnfrage stellen. Das tun Schimpansen – wahrscheinlich – noch nicht.

evangelisch.de: Aus dem biblischen Schöpfungsbericht oder auch der Geschichte von der Arche Noah und dem Bund Gottes mit den Menschen beziehen wir als Menschen ja unsere Hoffnung, dass wir nicht an der Natur zugrunde gehen. Dürfen wir das, angesichts der selbst veranlassten Evolution, des durch Menschen ausgelösten Artensterbens, Ihrer Meinung nach weiterhin hoffen?

Hagencord: Ich sage gerne an dieser Stelle: Ich bin kein Optimist aber ich habe eine Hoffnung. Den Hoffnungsbegriff würde ich an dieser Stelle stark machen. Und den beziehe ich natürlich aus meinem Glauben und aus meiner Zuversicht, dass da ein Gott als Liebhaber des Lebens noch mitwirkt, unsere Hoffnung stärkt und damit auch unser Engagement.

evangelisch.de: Daher vielleicht auch das Plädoyer für den Blick auf das lebende, bedrohte Tier, eher als auf das Dinosaurierskelett …

Hagencord: Genau, da finde ich die Situation unter den Dinosauriern eher grotesk.

evangelisch.de: Wobei die ja nicht durch Menschenwirken ausgestorben sind …

Hagencord: Ja, uns gab's da noch nicht , aber es gibt auch die These, wonach die an ihren eigenen Abgasen erstickt sind - das ist dann doch wieder sehr naheliegend.


Rainer Hagencord hat in Münster und Fribourg (Schweiz) Theologie studiert, wurde 1987 zum Priester geweiht und hat zudem in Münster das Staatsexamen in Biologie und Philosophie abgelegt. Er promovierte über das theologische Verhältnis von Mensch und Tier. Im Frühjahr 2008 war er Mitbegründer des Instituts für Theologische Zoologie, seit Herbst 2009 hat die Einrichtung den Status eines sogenannten An-Institutes an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster (PTH).