Rund 800.000 Menschen in Deutschland verletzen sich wiederholt selbst, schätzen Ärzte. Viele von ihnen sind Jugendliche, vor allem Mädchen. Um die Ursachen, aber auch die Möglichkeiten zur Prävention zu untersuchen, startet die Uniklinik Heidelberg im Januar eine Studie, an der elf EU-Länder beteiligt sind. Unter der Federführung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sollen insgesamt mehr als 11.000 Schüler und Schülerinnen im Alter von 14 bis 16 Jahren befragt sowie Lehrer fortgebildet werden.
Autoaggressive Verhalten von Jugendlichen nimmt weltweit zu
Seit den 90er Jahren beobachten Experten, dass immer mehr junge Menschen aus Europa und den USA, aus Japan, Australien und Hongkong sich mit scharfen Gegenständen wie Rasierklingen oder Glasscherben ritzen und schneiden. Sie verbrennen sich mit Zigaretten oder Bügeleisen, auch im Genitalbereich. Einige reißen sich die Haare aus und schlagen den Kopf gegen die Wand, beißen sich oder schlucken giftige Substanzen. Mit mittelalterlicher religiöser Selbstkasteiung hat das autoaggressive Verhalten von Jugendlichen nichts zu tun. Auch die Mode, sich Herzchen in die Arme zu ritzen oder Namen einzutätowieren ist etwas ganz anderes.
Paul Plener, Arzt an der Uniklinik Ulm, hatte bereits 2007 das Phänomen an Gymnasien, Haupt- und Realschulen des Alb-Donau-Kreises untersucht und dafür rund 660 Schüler und Schülerinnen der neunten Klassen befragt. Ein Viertel von ihnen gab an, sich bereits mindestens einmal absichtlich verletzt oder Schmerzen zugefügt zu haben. Rund zwölf Prozent dieser Jugendlichen taten sich immer wieder weh.
Unerträgliche Spannungen und Frustrationen loswerden
Es sei ein Vorurteil von Eltern und Lehrern zu sagen: "Du machst das ja nur, um auf Dich aufmerksam zu machen", resümierte Plener jüngst auf einem Psychiatriekongress in Berlin. "Die meisten Jugendlichen wollen in erster Linie unerträgliche Spannungen und Frustrationen loswerden oder sich von unangenehmen Erinnerungen ablenken."
Das funktioniert deshalb, weil der Körper während einer Verletzung Glückshormone produziert, die zunächst zu einer Schmerzunterdrückung führen, heißt es auf der Internetseite www.neurologen-und-psychiater- im-netz.de: "Diese Ausschüttung körpereigener Endorphine kann möglicherweise bei bestimmten Jugendlichen das Bedürfnis nach Wiederholung auslösen, wenn insgesamt eine schlechte Grundstimmung vorherrscht."
Hinter den Narben verbirgt sich oft eine Geschichte von Missbrauch
Auch Jacqueline wollte mit ihren Stürzen und Kratzern zunächst die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich ziehen. "Ich bin von ganz allein darauf gekommen, weil sich von klein auf nur dann jemand um mich gekümmert hat, wenn ich krank oder verletzt war", erzählt sie. "Und irgendwann hab ich den beruhigenden und regulierenden Effekt bemerkt und weiter gemacht." Sie fühlte sich nach einer Verletzung "befreit und einfach entspannter, zufriedener". Mal griff sie nur einmal im Monat zur Klinge, mal, wenn Wut, Angst und Ekel überhandnahmen, mehrmals am Tag.
Selbstverletzung hängt eng mit einem Suchtverhalten zusammen, stellt der Arzt Michael Kaess von der Uniklinik Heidelberg fest. Eine Untersuchung von mehr als 5.000 Schülern vor einigen Jahren habe gezeigt, dass fast 70 Prozent der betroffenen Jugendlichen Zigaretten, Alkohol und Drogen konsumierten. "Beides zusammen kann Folge einer psychischen Erkrankung wie einer beginnenden Borderline-Störung, einer Essstörung oder einer Depression sein", sagt Kaess.
Bei Jacqueline verbirgt sich hinter den Narben eine Geschichte von Missbrauch, Magersucht und Depression. Vor zwei Jahren schaffte sie dann die Kehrtwende und verbannte die Rasierklingen aus ihrem Leben.
"Selbstverletzung wird auch unter Jugendlichen tabuisiert"
Selbsthilfeforen im Internet wie "Rote Tränen" raten dazu, eine Alternative zum Ritzen zu finden: "Male Dir rote Striche mit wasserlöslichen Filzstiften auf die Haut anstatt zu schneiden. Presse Eiswürfel an Deine Haut. Die Kälte ist zwar schmerzhaft, aber weder gefährlich noch gesundheitsschädlich."
Weil nur ein Bruchteil der Eltern merkt, was die Kinder treiben, setzt Mediziner Michael Kaess auf Information und Aufklärung. "Selbstverletzung wird auch unter Jugendlichen tabuisiert", sagt der Mediziner. "Die, die nicht betroffen sind, verstehen das nicht und wollen damit nichts zu tun haben. Wer sich ritzt und schneidet, wird zum Außenseiter."