Nicht über die tödliche Kriegswirklichkeit hinwegsehen
Nikolaus Schneider, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und stellvertretender EKD-Ratsvorsitzender, zur Afghanistan-Debatte.
05.01.2010
nrw.evangelisch.de / neu, jpi

"Es stimmt, was Bischöfin Margot Käßmann in ihrer Neujahrspredigt konstatiert hat: Viele Menschen in Deutschland haben über lange Zeit nicht realisiert, dass deutsche Truppen in Afghanistan mit Waffengewalt, die leider auch Zivilisten treffen kann, gegen die gewalttätigen Taliban kämpfen", sagt der Präses. Die "vernebelnde Sprache" des ehemaligen Verteidigungsministers Jung habe auch ihren Teil dazu beigetragen, "dass wir – vielleicht nicht ungern – über die tödliche Kriegswirklichkeit am Hindukusch hinweggesehen haben".

Aus Sicht des Vize-Ratsvorsitzenden setzt die Friedensdenkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen“ der Legitimation militärischer Gewalt enge Grenzen. Sie bindet den Einsatz militärischer Gewalt an „Recht-schaffende“ und „Recht-erhaltende“ Gewalt. "Im Blick auf Afghanistan komme ich beim Anlegen dieser strengen Maßstäbe zu folgender Einschätzung: In Afghanistan wüten Terroristen gegen das eigene Volk. In Afghanistan werden Mädchen und Frauen brutal verletzt oder ermordet, wenn sie Schulen besuchen und ihr Leben eigenständig gestalten wollen. In Afghanistan werden Recht und Gerechtigkeit im Namen einer verblendeten und unmenschlichen Religiosität mit Füßen getreten. Der Einsatz militärischer Gewalt ist auch nach den Kriterien unserer Friedensdenkschrift meiner Ansicht nach zumindest nicht grundsätzlich abzulehnen."

Aber gerade weil Waffengewalt alleine kein Recht und keinen Frieden schafft, stimme, was Bischöfin Käßmann in Dresden zur Sprache gebracht hat: "Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen.“ Nach diesen Alternativen bzw. Ergänzungen im bestehenden Einsatz in Afghanistan müsse dringend gesucht werden, so der Präses.

Die Friedensdenkschrift der EKD fordert für jeden militärischen Einsatz klare Zielsetzungen, ein umfassendes Konzept und eine Ausstiegsstrategie als rechtfertigende Kriterien solcher Gewaltanwendung. "Deren Fehlen stellt die Legitimität des Einsatzes in Frage. Politik und Militär sind hier national und international dringend gefordert."

Daraus folge aus Sicht der Theologen auch: "Wenn der Bundestag auf der Basis des Parlamentsbeteiligungsgesetzes den Auslandseinsatz der Bundeswehr mandatiert, dann sollte in Zukunft über die bestehenden Notwendigkeiten hinausgegangen werden. In einem Beschluss sollte es eine militärische Mandatierung für die Bundeswehr und eine zivile Mandatierung für deutsche Nichtregierungsorganisationen geben. Beides sollte klar beschrieben und gegeneinander abgegrenzt, auch die damit verbundenen Kosten sollten ausgewiesen werden."

Ein solches Vorgehen würde sehr viel deutlicher als bisher klar machen, dass die Fantasie für den Frieden, die die EKD-Ratsvorsitzende richtigerweise einfordert, "mehr meint als den Einsatz militärischer Gewalt".