"Wie viele Jahre schon, wie viele Jahre noch?"
Silvester ist stets nicht nur Anlass für den Blick nach vorn, sondern auch für den Blick zurück. Menschen tragen Lasten, doch Gott macht sie leicht. evangelisch.de veröffentlicht hier die Predigt von Generalsuperintendent Ralf Meister, die er in der ökumenischen Vepser zum Jahresabschluss in St. Canesius (Berlin) gehalten hat. Die Vesper wurde von der ARD übertragen.
30.12.2009
Von Ralf Meister

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus Amen.

Die alte Dezimalwaage, liebe Gemeinde, stand in der hintersten Ecke des verstaubten Stalls. Holzwurmmehl bedeckte die Platte, auf der einst zentnerschwere Getreidesäcke abgewogen wurden; Spinnweben über dem Gewichts-Pendel. Die Gewichte, ein Pfund, ein Kilo, zwei Kilo, fünf, lagen verrostet daneben. Jedes Jahr im Sommer, wenn meine Geschwister und ich mit den Eltern auf den Bauernhof zu meiner Großmutter fuhren, wur-den wir vom Vater gewogen. Es ging nicht darum, ob und wie viel wir zugenommen hat-ten. Es gehörte einfach zum Ferienvergnügen dazu, auf der alten Holzplatte ganz still zu stehen, wenn auf der anderen Seite Gewicht um Gewicht aufgelegt wurde; solange justiert, bis die beiden Zungen der Waage genau aufeinander zeigten.

Einmal im Jahr ging es als Kind auf die Waage.

Auch wenn mancher am Silvesterabend beim Stichwort Waage eher an die guten Vorsät-ze für das neue Jahr denkt, diese Stunden des Übergangs vom alten ins neue Jahr haben viel mit der Waage zu tun. Denn einmal im Jahr wiegen wir, was geworden ist. Und dabei werden all die Erinnerungen aufgerufen, die hinter uns liegen. Die fröhlichen und schmerzhaften Momente, die erfolgreichen Tage und die traurigen Stunden.
Das gehört für viele – bewusst oder unbewusst - zu diesem Abend dazu. Das fröhliche: "So jung sind wir niemals mehr beieinander", mischt sich mit dem, "Weißt Du noch, letztes Jahr" und "Schade, dass er nicht mehr dabei ist".

2009, 2008, 2007, 1989, viele Jahre klingen mit in dieser Nacht und für jeden sind es andere Jahre und Ereignisse, die lebendig erinnert werden. In jedem Jahr, wenn die kalendarischen Jahreszahlen steigen und steigen, geht der Blick quer durchs das eigene Leben. Geht auch auf Beginn und Ende. Wie viele Jahre schon, wie viele Jahre noch?

Es ist eine Art der persönlichen Bilanz, die gezogen wird. Das Wort Bilanz bezeichnete übrigens ursprünglich eine Balkenwaage.

Nähern sich die Zungen der Waage einander an am Ende des Jahres 2009 in meinem Leben? Oder ist es mehr geworden, was ich am liebsten zurücklassen möchte. Was mich niederdrückt und belastet? Manche Beschwernisse würde man gerne ablegen: eigene Krankheit oder der Abschied von Freunden. Hoffnungen mussten begraben werden, Wün-sche blieben unerfüllt.

Im Alter mag die Gelassenheit wachsen, dass es einen Ausgleich gibt, zwischen dem schweren und dem leichten. Das beides seinen Sinn hat. Einen Sinn, der vielleicht wäh-rend des Lebens manchmal rätselhaft scheint und sich erst im Rückblick zeigt.

So ist der Blick Gottes auf unser Leben. Aber da geht es nicht um eine Bilanz, ein gegen-einander aufwiegen des Guten mit dem Bösen. Es geht nicht um einen Ausgleich, sondern um eine Gewissheit. „Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ So fragt Paulus am Beginn des Abschnittes aus dem Römerbrief, den wir gehört haben.

Wenn beim Blättern in einigen Erinnerungsbildern manche Aufgeregtheit der Jugend belä-chelt wird und man sich bei anderen Bildern noch einmal sehnsüchtig zurück träumt, dann durchzieht diesen Reigen die Melodie: „Gott ist es, der gerecht macht.“ Diese Melodie ver-hindert nicht alle Schuld und Angst. Dieser Blick Gottes verhindert nicht Schmerzen und Sorgen. Aber er gibt uns die Gestimmtheit, ohne Angst auf das Leben schauen zu können. Auf das, was gewesen ist und – vielleicht noch wichtiger - auf das, was noch kommen wird. Und dieser Blick befreit uns von der Last der Schuld.

Wie viele Ereignisse sollten besser nicht auf der Waage stehen. Wie viele Höhen und Tiefen durchzogen nicht das vergangene Jahr. Sorgenvoll blicken wir nach Afghanistan, kriegerische Auseinandersetzungen, die weiter eskaliert sind. Ist das noch ein Einsatz, der dem Frieden dient? Braucht es nicht vielmehr ein klares und konsequentes Umsteuern mit einem definierten Ende dieses Einsatzes?

Und immer noch sind viele enttäuscht, ja entsetzt über den Ausgang des Weltklimagipfels in Kopenhagen. Wie weit ist diese Welt noch entfernt von einer gemeinsamen Verantwor-tung für die Zukunft unseres Planeten.
Man könnte verzweifeln. Wäre da nicht die Melodie, die unser Leben besingt, als eines, das in Gottes Hand geborgen ist. Das ist kein billiger Trost, sondern die schärfste Waffe gegen das Gift der Resignation und gegen die Versuchung der Selbstüberschätzung. Die Gewissheit, dass Gott mein Leben durchwirkt, die führt mich nicht aus dieser Welt hinaus, sondern mitten in sie hinein. "Denn ich bin gewiss", schrieb Paulus in einer Zeit, in der der christliche Glaube oft genug eine Gefahr für Leib und Leben der Gläubigen bedeutete. Das sind keine Lippenbekenntnisse sondern schmerzhaft bezeugte Erfahrungen. Das Be-kenntnis zu Jesus Christus ist keine Trostformel sondern eine Lebenshaltung mit Konsequenzen.
 

In dieser Hoffnung leben wir, dass die Welt - von Gott angesehen - eine andere wird. Und für diese Hoffnung leben wir, leidenschaftlich und überzeugt, dass sie sichtbare Gestalt annimmt.

Wo die alte Dezimalwaage geblieben ist? Ich weiß es nicht. Aber die Erinnerung, dass einmal im Jahr der Vater uns wog, nicht mit sorgenschwerer Miene sondern fröhlich gestimmt, diese Erinnerung ist geblieben.
Und da stehen wir nun, am Ende eines Jahres mit all den Lasten, die wir tragen. Und wir stehen auf der Waage, und Gott sieht uns an und wir werden leicht.

Denn wir sind gewiss: Dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

Amen
 


Ralf Meister (47) ist Generalsuperintendent in Berlin und gehört zu den Sprechern des Worts zum Sonntag. Bei dem vorstehenden Text handelt es sich um die Predigt in der ökumenischen Vesper zum Jahresschluss in der Kiche St. Canesius, übertragen im Ersten.