"Nicht alles getan, um die Nazi-Zeit aufzuarbeiten"
Deutschland hat mit der Suche nach flüchtigen NS-Tätern nach Meinung des Leiters der NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg, Kurt Schrimm, zu spät begonnen. Schrimm reagierte mit seinen Aussagen auf öffentliche Kritik an der NS-Stelle im Zusammenhang mit dem Münchner Gerichtsverfahren gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher Iwan "John" Demjanjuk. Die Fahndungsstelle hatte gegen Demjanjuk ermittelt. Der Vorwurf war, dass die NS-Stelle damit ihr 50-jähriges Jubiläum 2008 aufpeppen wollte.

"Es ist unumstritten, dass objektiv nicht alles getan wurde, um die Nazi-Zeit juristisch aufzuarbeiten", sagte Kurt Schrimm, Leiter der weltweit einzigartigen NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg, gegenüber dpa. Die Aufklärung sei lückenhaft gewesen, "zudem wurden anfangs auch Fehler gemacht."

Der Amsterdamer Experte für NS-Prozesse, Christian F. Rüter, hatte der Zentralstelle vorgeworfen, den Fall Demjanjuk nur aufgegriffen zu haben, um ihr 50-jähriges Jubiläum im Jahr 2008 besser feiern zu können. Zudem sei Demjanjuk ein kleiner Fisch. "Ich empfinde es als eine Unverschämtheit, uns zu unterstellen, um der Schlagzeilen willen zu arbeiten und deswegen einen kleinen Mann zu opfern", antwortete Schrimm auf den Vorwurf. Demjanjuk sei nicht der erste, der am Ende der Befehlskette stand und angeklagt wurde. Im Übrigen sei die Suche nach der individuellen Schuld unabhängig von der Funktion und Nationalität.

Schrimm kritisiert "Schlussstrichmentalität"

"Richtig am Vorwurf von Rüter ist aber, dass es im Verlauf der Jahrzehnte mehrere höherrangige NS-Täter gab, die freigesprochen wurden", betonte Schrimm. Wenn dies Fehlurteile gewesen sein sollten, bedeute dies nicht, "dass wir von Ermittlungsverfahren gegen kleinere Leute absehen." Die Gründe für die späte Aufklärung der NS-Vergangenheit lägen auf der Hand: Die ersten fünf Jahre zwischen 1945 und 1950 hätten die Deutschen diese Verbrechen nicht verfolgen dürfen. Dies hatten sich die Alliierten vorbehalten. "Mehr als 7000 Nazi-Verbrecher wurden von ihnen abgeurteilt. Das waren vor allem führende Köpfe."

Leider hätten die Amerikaner und die Engländer viele von ihnen später wieder auf freien Fuß gesetzt, sagte Schrimm. "Dies galt als Geste den Deutschen gegenüber, weil man sie brauchte für neue Bündnisse wirtschaftlicher und militärischer Art." In der gesamten westlichen Welt habe eine "Schlussstrichmentalität" geherrscht. Deutschland müsse sich aber zu Recht den Vorwurf anhören, dass in Polizei und Justiz möglicherweise ehemalige Nazis saßen, denen das ganz recht war.

Demjanjuk muss sich seit Ende November vor dem Landgericht München II wegen Beihilfe zum Mord an 27 900 Juden im Vernichtungslager Sobibor im Jahr 1943 verantworten. Der gebürtige Ukrainer soll damals als Hilfswilliger der SS geholfen haben, die Menschen in Gaskammern zu töten.

Zweiter Fall soll im Januar ermittelt werden

Einem ähnlichen Fall mit "einer noch besseren Beweislage" sind die Ludwigsburger Experten neuerdings auf der Spur: Es handelt sich dabei um den 1921 in der Ukraine geborenen Iwan Kalymon, der NS-Verbrechen begangen haben könnte. Ihm wurde wie Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft aberkannt, weil er sich diese unter Verschleierung seiner NS-Vergangenheit erschlichen hatte. Er lebt in Troy (US- Bundesstaat Michigan).

Aus Dokumenten gehe hervor, dass der gebürtige Ukrainer als Hilfspolizist schriftlich um Ersatz von Gewehrpatronen bat, weil er in Lwow (Lemberg/Ukraine) einen Juden getötet und einen weiteren schwer verwundet habe. "Kalymon behauptet aber, dass der Kalymon aus den Dokumenten ein anderer gewesen sei, gleichen Namens. Wir müssen nun seine Unterschrift in Dokumenten vergleichen, die sich in einem Lemberger Archiv befinden." Nach den derzeitigen Plänen soll dies im Januar in Angriff genommen werden.

dpa