Präses Schneider für neues Sozialwort beider Kirchen
Die beiden großen Kirchen in Deutschland sollten nach Auffassung des rheinischen Präses Nikolaus Schneider erneut "ein großes gemeinsames Werk zur sozialen Frage" erarbeiten. Die Kirche sei auch Anwältin der Menschen, die von der Politik verlange, Eigensinn und Gemeinsinn in eine Balance zu bringen, sagt der stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Interview mit dem epd. Präses Schneider äußert sich außerdem zu Wirtschaftskompetenz, parteipolitischem Engagement von Christen und dem Mitgliederschwund der Kirche.
29.12.2009
Die Fragen stellten Ingo Lehnick und Markus Jantzer

evangelisch.de: Präses Schneider, Sie sind im Oktober in Ulm zum stellvertretenden Ratsvorsitzenden der EKD gewählt worden, sind nun also der erste zweithöchste Repräsentant der evangelischen Kirche in Deutschland. Was haben Sie sich für ihre sechsjährige Amtszeit vorgenommen?

Nikolaus Schneider: Als Mitglied des Rates der EKD sind mir einige Themen wichtig: Im sozialen Bereich hat die EKD im vergangenen Jahr einiges gesagt zur Bedeutung des Unternehmertums für unser Land und für unser Wirtschaften. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir die Arbeitnehmerseite näher betrachten. Die Kammer für soziale Ordnung der EKD sollte sich in nächster Zeit mit der Würde der Arbeit und mit der Bedeutung der Gewerkschaften befassen. Wir sollten außerdem auf die katholische Bischofskonferenz zugehen, um darüber zu beraten, wie wir nach dem gemeinsamen Sozialwort der Kirchen von 1997 erneut ein großes gemeinsames Werk zur sozialen Frage erarbeiten können. Auch das würde mir persönlich sehr am Herzen liegen.

evangelisch.de: Warum ist das so wichtig?

Schneider: Es ist ein hohes Gut, dass sich die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gemeinsam zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen äußern. In der Folge ist ein solches Wort breit verankert. Und die Aufmerksamkeit und die politische Durchschlagskraft werden gesteigert.

"Menschen sind ansprechbar auf ihren Glauben"

 

evangelisch.de: Was wollen Sie gegen den scheinbar unaufhaltsamen Mitgliederschwund der evangelischen Kirche unternehmen?

Schneider: Zum einen müssen wir realistisch sein. Manche Entwicklungen sind nicht zu vermeiden. Wenn etwa mehr Menschen sterben als geboren werden, führt dies unweigerlich zu Mitgliederschwund, daran können wir nichts ändern. Wir dürfen es aber nicht resigniert hinnehmen, sondern verstärkt und bewusst zum Glauben und zur Mitgliedschaft in der Kirche einladen. Besonders Menschen, die der Kirche den Rücken zugekehrt haben, sind gut ansprechbar auf ihre Erfahrungen mit der Kirche. Man kann mit ihnen über ihre schlechten und ihre guten Erfahrungen reden, um daran wieder anzuknüpfen.

evangelisch.de: Wie erreichen Sie diese Menschen? Die kommen ja nicht - oder nicht mehr - zur Kirche.

Schneider: Wir treffen sie über unsere öffentlichen Foren und Angebote oder können ihnen nachgehen - bei den Menschen, die erst seit kurzem ausgetreten sind, könnten wir so von uns aus den Kontakt suchen. In der rheinischen Kirche, deren Präses ich bin, tun das schon heute viele Gemeinden ganz planmäßig. Vor allem im Osten Deutschlands treffen wir auf eine andere Gruppe, nämlich Menschen, die nie in der Kirche waren. Hier gibt es drei Ansatzpunkte. Der erste ist der Bereich der Bildung. Über unsere Kindergärten und Schulen haben wir die Möglichkeit, im Grunde alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen und mit Eltern und Kindern über den Glauben zu sprechen.

Zweitens: Durch unsere diakonische Arbeit erfahren Menschen, die durch evangelische Einrichtungen Hilfe erhalten, ganz konkret von der Liebe Gottes. Sie sind ansprechbar auf ihren Glauben. Der dritte Ansatzpunkt ist der Bereich der Kultur, der schon zu DDR-Zeiten ganz wichtig war. Hier brauchen die ostdeutschen Landeskirchen die Unterstützung durch die westlichen Kirchen.

"Politik ist die gemeinsame Aufgabe aller Bürger"

 

evangelisch.de: Glaubensmission ist nicht alles. Konkret erfahrbar sind für die Menschen soziale und gesellschaftliche Verhältnisse. Versteht sich Kirche auch als politische Anwältin der Menschen?

Schneider: Ja, aber sicher. Dabei ist die Grundlage kirchlicher Äußerungen im staatlichen und politischen Bereich die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Hier wurden bis heute gültige Feststellungen zum Verhältnis von Kirche und Politik getroffen. In der Erklärung heißt es: Die Kirche erinnert den Staat an Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit. Das bedeutet: Die evangelische Kirche lehnt totalitäre Regime ab. Und es bedeutet: Kirche verlangt von der Politik, Eigensinn und Gemeinsinn in eine Balance zu bringen. Hier sieht sich die Kirche in einem Wächteramt für die Menschen.

Wir sprechen aber nicht nur die Verantwortung der Regierenden, sondern auch die der Regierten an. Politik ist also eine gemeinsame Aufgabe aller Bürger. Schließlich wird in der Barmer Theologischen Erklärung ausdrücklich das Gewaltmonopol des Staates reklamiert. Zusammenfassend: Die Legitimität des Staates wird nur dadurch erreicht, dass sich der Staat in den Dienst von Frieden, Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung stellt.

evangelisch.de: Wie weit darf das parteipolitische Engagement von Geistlichen gehen?

Schneider: Ich finde es gut, wenn Christinnen und Christen in politische Parteien eintreten, sich dort engagieren und das auch öffentlich deutlich machen. Ich begrüße es, wenn Pfarrer politische Ämter und Mandate übernehmen - sie sollten aber in dieser Zeit ihre kirchliche Funktion ruhen lassen. In ihrer Tätigkeit als Pfarrer müssen sie sich parteipolitisch neutral verhalten. Denn wenn wir in unseren kirchlichen Funktionen auftreten, stehen wir für die ganze Kirche.

"Kaffeesatzleserei satt wirtschaftliche Kompetenz"

 

evangelisch.de: Können Sie die Kritik von Menschen verstehen, die sagen, Kirchenvertreter äußerten sich zu politischen Fragen häufig nicht klar genug, sondern redeten um den heißen Brei herum?

Schneider: Das kann ich einerseits verstehen. Andererseits sind manche Fragen kompliziert und komplex. Vereinfachungen sind dann nicht zulässig. In vielen kirchlichen Äußerungen werden zudem Position und Gegenposition dargestellt und abgewogen. Das kann in bestimmten Fällen und richtig und nötig sein, aber auch falsch. Nur im Ausnahmefall - etwa bei himmelschreiendem Unrecht - sollte Kirche zugespitzt formulieren. Im Normalfall sollte sie dies nicht tun, sondern etwas zur Gesprächskultur beitragen.

evangelisch.de: Müssen sich die Kirchen mehr Wirtschaftskompetenz aneignen, um bei strittigen ökonomische Fragen mehr Gehör zu finden?

Schneider: Na ja, was uns Wirtschaftsinstitute zur wirtschaftlichen Entwicklung so alles vorhersagen, erinnert doch häufig mehr an Kaffeesatzleserei denn an wirtschaftliche Kompetenz. Außerdem ist die Wirtschaftswissenschaft eine sehr ideologische Wissenschaft, die eine bestimmte Klientel bedient und von bestimmten, teilweise fragwürdigen Menschenbildern ausgeht. Wir haben in den Kirchen ausreichend wirtschaftliche Kompetenz - an der Stelle haben wir kein Problem. In der Öffentlichkeit wird wirtschaftliche Kompetenz häufig dann angezweifelt, wenn die Ergebnisse und die Positionen nicht gefallen. Damit müssen wir uns dann öffentlich auseinandersetzen.

evangelisch.de: Wie sehr beachten Politiker Äußerungen der Kirchen?

Schneider: Ich stelle fest, dass die Meinungen und Standpunkte von Kirchenvertretern in wachsendem Maß von Politikern nachgefragt werden. Es gibt in der Politik eine große Sorge über einen bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft. Und es gibt die klare Erkenntnis, dass Freiheit, die nicht gestaltet wird, zur Beliebigkeit und zum Chaos führt. Die Politik muss wieder mehr zur Eigenständigkeit zurückfinden und darf nicht allzu leichtfertig dem Druck von Interessengruppen nachgeben.

epd