Die 57-jährige Polin, die seit zwanzig Jahren mit ihrer Familie in Mülheim an der Ruhr lebt, hat ihren Sohn Adam nicht sterben sehen. Aber sie hat es damals gespürt, am zweiten Weihnachtstag vor fünf Jahren. Keinen Bissen habe sie mehr hinuntergebracht, als die ersten Bilder des Tsunamis im Fernsehen zu sehen waren, erzählt sie. Ihr Mann und ihre Tochter fuhren zu den Flughäfen, riefen beim Auswärtigen Amt an, machten bei den Behörden Druck. Halina Schejok aber saß nur wie gelähmt zu Hause.
Erstarrung - ein psychologischer Aspekt
"Erst das Projekt 'Hoffen bis zuletzt' hat mir geholfen, aus meiner Starre herauszufinden", berichtet Halina Schejok. Im April 2005 luden sie Seelsorger der evangelischen Kirche zum ersten Angehörigentreffen ein. "Dort habe ich mich verstanden und geborgen gefühlt", sagt die Polin. Das Gespräch mit anderen Betroffenen, das gemeinsame Weinen und das Gedenken an die Toten seien für sie sehr wichtig gewesen. Besonders in den neun langen Monaten, bis die Kleidungsstücke ihres Sohnes, eines 25-jährigen Maschinenbaustudenten, gefunden wurden. Sein Leichnam wurde nie identifiziert.
"Es gab viele Menschen, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten", stellt Projektleiter Joachim Müller-Lange fest. "Die bis zuletzt hofften, dass der vermisste Mensch doch überlebt hat." Andere mussten mit ansehen, wie ihre Familie von der Welle fortgerissen wurde. "Diese Katastrophe hatte ganz andere Ausmaße als alles, was ich bislang erlebt hatte", sagt der Landespfarrer für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Deshalb gründete er bereits einige Wochen nach dem Seebeben gemeinsam mit anderen Seelsorgern und dem Deutschen Roten Kreuz das Projekt "Hoffen bis zuletzt".
Das Meer bei Khao Lak: "Auch ein Symbol des Friedens"
Insgesamt 600 Hinterbliebene hat Müller-Lange mit einem Team von rund 70 Seelsorgern in den vergangenen fünf Jahren begleitet. Er besuchte sie zu Hause, organisierte Angehörigentreffen und veranstaltete Gedenkfeiern. Auch in Thailand. Dort waren die Seelsorger dreimal mit einer Gruppe von Angehörigen, um Blumen am Strand von Khao Lak niederzulegen. Die Gestecke seien von der ruhigen, aufkommenden Flut ins Meer geschwemmt worden, erzählt Müller-Lange. "Es war ein Symbol dafür, dass dieses Meer nicht nur grausam ist, sondern auch friedlich sein kann."
An der Reise im Dezember 2008 nahmen auch Halina Schejok und ihre Familie teil. Voller Angst sei sie dort hingefahren, sagt sie. "Zu Anfang war das Rauschen des Meeres für mich unerträglich." Doch mit Hilfe der Seelsorger habe sie sich jeden Tag ein bisschen näher an den Strand herangewagt und schließlich auch an der Gedenkzeremonie teilgenommen. Sie habe einen Ort der Trauer finden wollen, sagt Schejok. "Sein Grabstein in Deutschland kam mir immer künstlich vor, denn er starb ja in Thailand."
Trost und Versöhnung - auch mit Gott
Alle Orte, an denen sich ihr Sohn Adam damals aufhielt, lernte die Polin auf der Reise kennen. Sie war am Strand, im Hotel, in den Restaurants. Erst sei sie voller Hass auf das südostasiatische Land gewesen, räumt sie ein. Doch mit jedem neuen Tag habe sie die Schönheit Thailands erkennen und die Begeisterung ihres Sohnes für dieses Urlaubsland verstehen können.
Am Ende der Reise sei sie getröstet und auch versöhnt gewesen. Versöhnt mit Gott. "Ich war so sauer, dass er mir meinen Sohn genommen hat", erzählt Halina Schejok. "Doch in Thailand habe ich verstanden, dass Gott uns nicht verlassen hat, sondern uns jetzt hilft, diesen schweren Weg zu gehen und das alles zu ertragen."
Seitdem ist die Polin ruhiger geworden. Die schrecklichen Gedanken an ihren Sohn Adam inmitten der Flutwelle tauchen seltener auf, und wenn sie kommen, dann lässt Halina Schejok ihren Tränen freien Lauf. Vermutlich werde sie auch bei der großen Gedenkfeier zum fünften Jahrestag in Düsseldorf weinen müssen, sagt sie. "Trotzdem nehme ich daran teil, denn die vielen Toten dieser Katastrophe dürfen nicht vergessen werden."