"Wir freuen uns, dass die Kinder mal etwas von uns lernen!" Frau Fiedler (57) betont das "uns". Und fügt hinzu: "Sonst sitzen sie in der heutigen Zeit ja lieber am PC." Sie hilft Selin (12) bei den nächsten Falzungen eines Fröbel-Sterns. Ihre Bastelfreundin Frau Nestler zeigt es inzwischen Michelle (13). Die beiden Mädchen besuchen oft den Kinder- und Jugendtreff im Mehrgenerationenhaus (MGH) Chemnitz, zum Chillen, wie Michelle sagt, oder wie Selin als Anleiterin beim Kindercafé. Hier backen die Kinder und servieren das Gebäck gegen Spende. Mit den gesammelten Münzen besorgen sie wieder die Zutaten. So kennen sie auch die Frauen vom "Kreativteam" des Stadtteiltreffs, der mit der benachbarten Kita als drittem Partner das MGH bildet.
Während Selin und Michelle sich auf die Zacken konzentrieren, falten die Frauen flink einen silbernen Stern nach dem anderen, denn: "Die sind bestellt von der Jugend. Die wollen sie morgen bei ihrer Weihnachtsfeier mit farbigem Licht bestrahlen." Vielleicht das erste Mal, dass der nach dem Kindergartengründer benannte Stern im Diskolicht glitzert!
Sich ungezwungen begegnen
Das ist ein winziges Beispiel von dem, was die Mehrgenerationenhäuser 500mal in Deutschland anbieten, gemäß der offiziellen Definition: "Für Menschen verschiedener Altersgruppen bietet ein MGH Raum, sich ungezwungen zu begegnen und gegenseitig von den Kompetenzen des jeweils anderen zu profitieren. Zudem wird es zu einer Dienstleistungsdrehscheibe."
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Das Ur-MGH ist das SOS-Mütterzentrum in Salzgitter. Es wurde im Jahr 2000 Expo-Projekt und von Ursula von der Leyen entdeckt. Als Familienministerin startete sie eine Ausschreibung, um solche Häuser bundesweit ins Leben zu rufen. Bewerben konnten sich alle möglichen Zentren und Treffs, die generationenübergreifend arbeiten wollten. Wenn ihr Konzept überzeugte, wurde ihnen für jeweils fünf Jahre lang maximal 40.000 Euro Förderung zugesagt, dazu Unterstützung und Austausch. Das "Aktionsprogramm MGH" wird als Kind des Internetzeitalters über eine Website strukturiert, über die man alle Häuser in der Nähe mit ihren Angeboten finden kann, und die auch einen internen Bereich mit Tipps etwa zur Öffentlichkeitsarbeit enthält.
Dass die Zeit der Großfamilie vorbei ist und deshalb der Zusammenhalt der Generationen über die Familie hinaus gestärkt werden muss, war an sich keine neue Erkenntnis. Ulrike Gebelein vom Diakonischen Werk der EKD erinnert an ein Projekt der Evangelischen Kitas und Gemeinden Mitte der 90er Jahre, die Kita für die ganze Familie zu öffnen. Das entscheidende sei, das Schubladendenken aufzugeben und sich im Gemeinwesen zu vernetzen. "Ein alter Mensch vereinsamt wie die allein erziehende Mutter. Der Kaffeetreff in der Kita, in dem sich die Mütter austauschen können, ist ein Vorläufer des Offenen Treffs im MGH", sagt sie.
Offene Zukunft in der neuen Regierung
Ursula von der Leyen hatte ihr Modell mit 170 Besuchen vor Ort auch persönlich unterstützt. Wie geht es nun weiter nach dem politischen Wechsel in Berlin? Im Koalitionsvertrag heißt es, dass die MGH's weitergeführt und "auch in die Verbesserung der Versorgungssituation von Demenzkranken und ihren pflegenden Angehörigen stärker eingebunden werden" sollen.
Aber was heißt das praktisch? Können sich neue Häuser als MGH bewerben, zum Beispiel Seniorenzentren, die mit der Generation der pflegenden Kinder und Enkel kooperieren wollen? "Es ist noch zu früh, darüber etwas sagen zu können, der Koalitionsvertrag ist noch zu frisch, um daraus schon weitergehende Umsetzungen ableiten zu können", antwortet Annemarie Gerzer-Sass, Leiterin der Konzeption und Beratung der Serviceagentur für die MGH's. Sie vertröstet auf das kommende Frühjahr.
Hilfe für Demente
Alle MGH's bieten schon jetzt als Informations- und Dienstleistungsbörse Entlastung für zeitweiligen Hilfebedarf bei Krankheit. Alle regen Senioren zu geistigen, sozialen und körperlichen Aktivitäten an, was indirekt Demenz vorbeugt. Übungen wie Seniorengymnastik oder die beliebten Senioren-PC-Kurse nach dem Motto "Jung hilft alt" etwa, oder das Kochen und Backen und gemeinsame Essen, ob Frühstückstreff, Mittagstisch oder Café: Alles fördert eine bessere Ernährung, die Tagesstruktur, die Gemeinschaft.
Direkte Angebote für Demenzkranke und deren Angehörige leisten über 140 Mehrgenerationenhäuser. Wenn Besucher ihre dementen Angehörigen in den Treff mitbringen können, dann ist das in der offiziellen Lesart schon ein erster Schritt in die Versorgung. Zum Beispiel in Horneburg, einer 6.000-Einwohner-Stadt im Speckgürtel Hamburgs. Dort treffen sich einmal monatlich rund 15 Angehörige von Demenz-Erkrankten in einer Selbsthilfegruppe. Erkrankte, die noch das Haus verlassen können, werden mitgebracht. Zu Beginn wird gemeinsam gefrühstückt, dann werden die Dementen von geschulten Laien betreut, während eine Frau aus dem Vorstand der Alzheimergesellschaft die Angehörigengruppe leitet. Auch eine Dementen-Wohngemeinschaft nutzt das MGH, um bei einem Ausflug einzukehren, ohne wie in einem normalen Café Scheu vor den anderen Gästen zu haben.
Darüber hinaus gibt es gemeinsames Keksebacken mit dem Waldkindergarten, Feiern, Ausflüge und Urlaubsreisen. Die Verantwortliche im MGH, Gisela Punke, erklärt auch das typische Finanzierungskonzept. Die Leiterin der Selbsthilfegruppe erhält nur aus dem Etat des MGH ihre Fahrtkosten ersetzt. Die Laienhelfer, welche eine 30-stündige Schulung absolviert haben, bekommen pro Stunde acht Euro Aufwandsentschädigung. Wenn das nicht gerade durch eine große Spende gedeckt wäre, müsste die Summe von den Angehörigen gezahlt werden. Neulich erst habe eine Angehörige bei einem Treffen eine Laienhelferin kennen gelernt und so viel Vertrauen zu ihr gefasst, dass sie sie auch privat zu diesem Stundensatz engagieren will. Gisela Punke überlegt schon, auch eine kostenpflichtige Gruppe für Demenzkranke zu öffnen.
Wer zahlt für Herrn Meyer?
Denn ganz ohne Geld funktioniert dieses bürgerschaftliche Engagement nirgendwo. In Hamburg etwa wurde vom Diakonie-Hilfswerk der "SeniorPartner Diakonie" ins Leben gerufen. "Freiwillige entlasten zu Hause", verspricht das Projekt, das einen Kostenanteil für Schulung, Organisation und Aufwandsentschädigung der Freiwilligen in Höhe von acht Euro fordert. Verena Keller, Altenpflegerin und angehende Fachwirtin für den Gesundheits- und Sozialbereich, berichtet, wie sie am SeniorPartner-Standort im wohlhabenden Stadtteil Poppenbüttel keine Schwierigkeiten habe, zu diesen Konditionen zu vermitteln. "Wir setzen das von der Steuer ab", wurde ihr entgegnet.
Anders in Billstedt im armen Hamburger Osten, wo der SeniorPartner im dortigen MGH ein weiteres seiner fünf Hamburger Büros unterhält. Sie erzählt von Herrn Meyer, der nach einem Schlaganfall nicht mehr lesen kann und glücklich ist über den Besucher, der ihm zuhört, mit dem er trotz seiner krankheitsbedingt schwer verständlichen Sprache kommunizieren kann. Aber mehr als zwei Stunden pro Woche kann er sich nicht leisten. Verena Keller setzt ihr Fachwissen ein und hofft, durch einen individuellen Antrag an die Krankenkasse noch mehr Geld lockermachen.
Würde Herr Meyer den Herd anlassen, die Nachbarn grundlos beschimpfen, die Nacht zum Tage machen oder in anderer Weise eine "eingeschränkte Alltagskompetenz" im Sinne des §45 der Pflegeversicherung zeigen, dann könnte Verena Keller je nach Zahl der Symptome 100 oder 200 Euro monatlich für ihn beantragen. Zwar sei dieser Zuschuss zur Dementenbetreuung "ein Tropfen auf den heißen Stein", wie sie feststellt, aber doch der erste Fortschritt, den die Pflegeversicherungsreform im Juli 2008 erbracht hat. Diesen neuen Spielraum nutzen alle MGHs, die Angebote für diese Zielgruppe machen.
Wohnen im Mehrgenerationenhaus ist noch selten
Denn wenn 2011 die Fünf-Jahres-Förderung der MGHs der ersten Ausschreibung endet und 2012 die Förderung der zweiten Welle ausläuft, sollen die Häuser laut Plan selbst in der Lage sein, sich durch kostenpflichtige Dienstleistungsangebote sowie Kooperationen mit Partnern, Sponsoren und Netzwerken zu finanzieren. Der Bund könne nur Innovationen anregen, so die Expertin Annemarie Gerzer-Sass. Verstärkt würden die Häuser jetzt durch eine Kooperation mit der Alzheimer-Gesellschaft informiert. Auch das Thema "Angst vor Demenz im MGH – da kommen die anderen nicht mehr" sei kürzlich diskutiert worden.
Ein weiteres Standbein haben Mehrgenerationenhäuser, die schon eine reguläre Tagespflegestätte integriert haben, wie im ersten Mütterzentrum in Salzgitter, oder die Seniorenwohnungen oder Heime einbeziehen. Ihre Zahl kann man allerdings an zwei Händen abzählen. Etwa die Lebensräume für "Jung und Alt" in Ravensburg mit über 130 Wohneinheiten, auf acht Häuser verteilt, oder in Coburg, wo 15 Einzelwohnungen in einer barrierefreien Hausgemeinschaft entstehen. Oder in Zerbst in Sachsen-Anhalt, wo ein Plattenbau abgerissen wurde und eine Immobiliengesellschaft unter dem Namen "Mehrgenerationenhaus" Wohnungen und Räume für Dienstleister wie Ärzte, Physiotherapeuten und Friseure baut.
Das Mehrgenerationenhaus habe sich zu einer Marke entwickelt, meint auch Reiner Picker, Leiter des MGH in Hamburg-Billstedt. Die Kirchengemeinde als Trägerin will die Arbeit auf jeden Fall fortführen. Seine Aufgabe sei, sagt er schmunzelnd, den "nächsten Fördertrend" aufzuspüren, um das zu ermöglichen. Ein Wohnprojekt im MGH anzusiedeln, zum Beispiel in einem der durch die Gemeindefusion demnächst freien Häuser, empfände der 48-Jährige persönlich als optimal. Noch ist das MGH als Wohnort auf der Website des Bundes allerdings als "häufiges Missverständnis" verzeichnet. Vielleicht wird es bald ein Ziel.
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ZDF-Reportage: Leben im Mehrgenerationenhaus. Quelle: ZDFmediathek
Katharina Weyandt ist freie Autorin und betreut in der evangelisch.de-Community den Kreis "Wenn die Eltern älter werden".