"Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind – auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind". Das ist die frohe Botschaft. Und was machen wir Menschen? Einen gewaltigen Stress zum so genannten Fest der Familie. Dabei sollte es doch ganz besinnlich zugehen in dieser besonderen Zeit. Worauf aber genau besinnen, was sind die feierlichen Traditionen und wie flexibel lassen sich die Rituale gestalten? Dazu vielleicht vorab ein Gedanke – unsere komplette Idee von Weihnacht beruht auf kirchlichen Konventionen unter der Obhut staatlicher Fest-Fürsorge – zwei Feiertage folgen dem Heiligen Abend. Diese Konstellation ist ja wirklich nett gemeint, birgt aber Konflikte ohne Ende. Besonders die klassische Familie in konservativer Rollenverteilung lebt mit dem großen Risiko, dass die große Inszenierung inklusive aller Beteiligten immer knapp an der Fehde vorbei schrammt.
Eklatante Dummheit der Eltern
Bedeutet das für Patchwork-Familien nun automatisch die Potenzierung des Stresses, weil noch mehr Akteure ins Spiel kommen? Auf keinen Fall. Aber es bietet eine Fülle von Möglichkeiten und kommt damit der ursprünglichen Weihnacht vielleicht sogar ein wenig näher als die kolportierte Version. Natürlich kann auch alles fürchterlich kompliziert werden – doch hat das dann meist gar nichts mit Weihnachten zu tun, sondern der eklatanten Dummheit der Eltern, die Kinder für eigene Interessen zu benutzen. Klingt brutal und genau das ist es auch, wenn verletzte Eitelkeiten oder erleidete Demütigungen solche Egoismen provozieren. Die haben aber um Himmels Willen keinen Platz unterm Weihnachtsbaum. Wer dem oder der Ex eins auswischen will und eine Feier mit den Kindern vereitelt, straft nur die Kinder und die Quittung dafür kommt. Prompt oder später – aber sie wird kommen.
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"Eltern sollten zu Weihnachten ernsthaft die Gelegenheit nutzen und sich fragen, warum sie vor den Kindern schlecht über den Expartner reden. Dadurch befinden sich die Kinder immer in einem Spannungszustand. Wenn ihre Eltern aber mit einem gewissen Verständnis übereinander sprechen, honorieren das die Kinder sofort, sie sind gelöst und fröhlich", sagt Pfarrer Rüdiger Haar. Als Psychotherapeut arbeitet er im diakonischen Werk in Kassel speziell mit Kindern und Jugendlichen.
"Oh du fröhliche, oh du seelige, Gnaden bringende Weihnachtszeit". Josef ist seinerzeit nicht abgehauen oder hat im Stall blöd herumgeredet, sondern war Maria eine Hilfe und ein Partner. Denn mehr gab es davon nicht im Stall zu Bethlehem, der Rest waren sporadische Bekannte, nicht einmal wirkliche Freunde. Erst schauten die Hirten vorbei und zum Finale folgten die Könige oder Weisen dem Stern. Das Kommen und Gehen dauerte zwölf weihevolle Tage und heißt seit dem entsprechend Weihnacht. Wenn Patchwork-Familien wirklich an Fairplay interessiert sind, kann das für alle Beteiligten eine super Zeit werden. Für die Kinder sowieso: Sie stolpern von einer schönen Bescherung in die nächste und können dabei neben den Geschenken ganz viel Liebe finden, Geborgenheit und Ehrlichkeit.
Keine falsche Harmonie vorgaukeln
"So eine Weihnacht kann die Kinder quantitativ bereichern, weil sich noch mehr Menschen über sie freuen und sie wieder Neues kennenlernen. Qualitativ bereichert die Situation die Kinder allerdings nur, wenn ein Hinundhergezerre zwischen den Familien ausbleibt, damit kein Beziehungsstress aufkommt. So können die Großeltern zum Beispiel auch nach Weihnachten besucht werden. Lieber die Aktivitäten herunter schrauben, auftretende Probleme deutlich ansprechen und keine falsche Harmonie vorgaukeln", sagt Haar.
Denn Kinder sind so clever, sie durchschauen die dilettantische Schauspielerei ihrer Eltern sofort, wenn diese sich am heiligen Abend in heiler Welt versuchen. Wobei die Spannungen dann beim obligatorischen Besuch der Verwandten eher noch zunehmen, da wechselt das Drama oder die Komödie nur in den nächsten Akt. Eigentlich schade um die vergeudete Energie. Wenn zwischen den Eltern die große Liebe mit den Jahren verloren ging, so sollte wenigstens ein Hauch von Nächstenliebe bleiben, die einzig auf Respekt basiert. Wer rücksichtsvoll mit seinen Nächsten umgeht, gibt den Kindern langfristig mehr Liebe mit auf den Weg, als jede hollywoodlike und werbeaffine Sozialromantik vorflunkern kann.
"Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all: zur Krippe hin kommet" – die steht nun schon seit Christengenerationen in den Kirchen und in den Kaufhäusern sowieso. Allerdings verzichten wir an dieser Stelle auf die leidige Kommerz-Diskussion. Ob es sich zu Weihnachten um plumpen Materialismus handelt oder eine Form der kollektiven Wirtschaftsförderung, darüber mögen andere befinden. Sind Trennungskinder aber generell materiell benachteiligt und leiden sie unter der Situation? Darauf gibt es keine verbindliche Antwort, denn jedes Schicksal besitzt seine eigene soziale Dynamik. Einige Trennungskinder werden mit Geschenken überschüttet, weil Eltern wie neue Partner um Sympathien buhlen. Andere Trennungskinder bekommen wenig oder vielleicht auch gar nichts, weil das Budget dafür in den getrennten Haushaltskassen schlicht fehlt. Und zwischen den Extremen existiert jede denkbare Variante wie bei jeder noch kompletten Familie auch.
Die Mär vom Miteinander
Denn die kämpfen genauso mit den Widrigkeiten dieses Wirtschaftssystems. Deshalb Schluss mit dem Stigma vom Verliererkind in der Patchwork-Familie. Diese Konstellation gehört heute zur Normalität und hat ihren einstigen Außenseiter-Status bei geschätzten 1,5 Millionen Kindern schon lange überwunden. Bleibt der Brief ans Christkind. Dabei gibt es aber keinen Beleg dafür, dass an der obersten Stelle des Wunschzettels immer ein gemeinsames Weihnachtsfest mit Mama und Papa steht. Bei den kleinen Kindern sicherlich oder bei Halbwaisen, wo der endgültige Verlust eine andere Dimension besitzt. Alle anderen aber arrangieren sich erfahrungsgemäß ganz gut mit den Umständen, es spricht ja auch nichts gegen zwei oder drei oder vier Weihnachtsfeiern in wechselnder Besetzung. Nur eine Frage der Organisation und Improvisation. Je mehr die Kinder dabei ihre wahren Wünsche leben können, desto besser: "Die Eltern sollen die Planung in der Hand behalten, aber über die Ausführung und Gestaltung mit den Kindern gemeinsam entscheiden, damit die Kinder auch lernen mit der Situation umzugehen", so Haar.
"Vom Himmel hoch da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär". Und das ist die Mär vom Miteinander. Weil die meisten Geschenke sowieso nur Sinn machen, wenn gemeinsam gespielt oder zusammen etwas unternommen wird. So besteht der wahre Luxus zur Weihnacht offensichtlich im Zeithaben füreinander. Wirklich keine große Erkenntnis, doch potentiellen Verlustängsten der Kinder können die Erwachsenen nur mit Aufmerksamkeit begegnen und dafür bedarf es eben der Zeit. Und daran werden sich die Kinder erinnern. Ihr Gedächtnis arbeitet sensationell. Was sie eben in der Schule gelernt oder im Hort gespielt haben? Gleich wieder vergessen. Geschenke vom vergangenen Geburtstag? Wen interessiert das. "Kinder mögen es einfach, wenn jemand bei ihnen ist, wenn sie etwas zeigen und auch erklären können. Also warum nicht mal gemeinsam Dieter Bohlen schauen oder sich auch in einem Konsolen-Spiel versuchen? Dabei geht es zum Beispiel weniger darum, wie brutal mache Spiele sind, sondern wie allein und isoliert die meisten Kinder spielen müssen", sagt Haar.
Deshalb sollten Eltern ihre Kinder über die Weihnachtszeit nicht medial abfüttern, sondern die Chancen nutzen, die beim und durchs Zusammensein entstehen. Dazu zählt Haar natürlich auch das gute alte Gespräch. Ganz analog, von Angesicht zu Angesicht. Einmal ohne Mobiltelefon oder Chat im Internet, die Dank der Technik große Distanzen überbrücken und Nähe wenigstens suggerieren. Wenn diese Nähe dann tatsächlich Wirklichkeit wird, kann die Party beginnen. In diesem Sinne: "Fröhliche Weihnacht überall, tönet durch die Lüfte froher Schall".
Stefan Becker ist freier Journalist und lebt in Innsbruck.