Mit der Wünschelrute auf Märchensuche
Vor 150 Jahren, am 16. Dezember 1859, starb der Sprach- und Literaturwissenschaftler sowie Märchen- und Sagensammler Wilhelm Grimm in Berlin. Er wurde am 24. Februar 1786 im hessischen Hanau geboren. Sein Lebenslauf und sein Werk sind eng mit dem seines ein Jahr älteren Bruders Jacob verbunden, worauf die oft gebrauchte Bezeichnung Brüder Grimm hinweist.
15.12.2009
Von Claudia Schülke

Er war mit einer Wünschelrute unterwegs. "Dieser Wünschelrutenzweig fiel uns glücklich in die Hand", sagte Jacob Grimm in der Gedenkrede an seinen Bruder Wilhelm, der vor 150 Jahren starb, am 16. Dezember 1859. Und er meinte damit die Einfühlsamkeit, mit der Grimm die Volksseele in der Poesie aufspürte. Von Wilhelms "Silberblicken" sprach Jacob, um jenes intuitive Genie zu beschreiben, mit dem der sensible Bruder die gemeinsam gesammelten deutschen Volksmärchen erschlossen und auf unverwechselbare Weise nacherzählt hat.

Ursprünge der Grimm'schen Märchen

Das wusste vor 150 Jahren nicht jeder zu schätzen. Über eine "Rumpelkammer wohlmeinender Albernheit" lästerte Friedrich Schlegel, und Clemens Brentano fand die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm einfach langweilig. Die Nachwelt urteilte anders. Die Grimm'schen Märchen sind in mehr als 140 Sprachen übersetzt worden. Etwa eine Million Touristen pilgert jährlich über die Deutsche Märchenstraße zwischen Hanau und Bremen.

In Hanau wurde Wilhelm Grimm 1786, ein Jahr nach seinem Bruder Jacob, als Sohn eines Amtmannes geboren. "Lebhaft steht mir noch in Gedanken, wie wir beide Hand in Hand über den Markt gingen", schrieb er in seiner Autobiografie. In Steinau an der Straße wuchsen die Brüder auf, in Kassel besuchten sie das Friedrichgymnasium. In Marburg studierten sie Rechtswissenschaften bei Friedrich Karl von Savigny; Wilhelm promovierte sogar. Als nach dem Vater 1808 auch die Mutter starb, mussten Jacob und Wilhelm sich um vier unversorgte Geschwister kümmern.

Da hatten sie bereits, angeregt von Savigny, mit dem Sammeln von Liedern und Märchen begonnen. Die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, Bettine von Arnim und deren Gatte Achim sowie die Geschwister von Haxthausen trugen ihnen die Märchen zu, die sie alten Dorfbewohnern abgelauscht hatten. Das "Rotkäppchen" kannten die Brüder vermutlich schon aus Hanau, andere Märchen wie "Sterntaler" hatten sie in Steinau kennengelernt.

Im Schatten des Bruders

Als 1812 die ersten 86 Märchen erschienen, wollten die Herausgeber mit ihrer Edition vor allem die deutsche Volkspoesie dokumentieren: "Hausmärchen" als patriotische Kampfansage an die napoleonische Fremdherrschaft. "Sie bezeichnen einmal ohne fremden Zusatz die eigentümliche poetische Ansicht und Gesinnung des Volkes", schrieb Wilhelm Grimm an Johann Wolfgang von Goethe, der von der Sammlung sehr angetan war. 1814 erschien der zweite Band: Märchen aus der französischen Tradition der hessisch-hugenottischen Gastwirtstochter Dorothea Viehmann.

Trotz seines anmutigen, erfolgreichen Märchentons und seines liebenswerten Charakters stand Wilhelm Grimm stets im Schatten seines Bruders. Er musste sich, asthmatisch und herzkrank, gesundheitlich schonen und immer wieder zu Kuren aufbrechen. Dennoch arbeitete er von 1814 bis 1829 als Sekretär an der Bibliothek in Kassel. Er hielt Jacob den Rücken frei. Als er 1825 Henrietta "Dortchen" Wild heiratete, nahm er den Bruder in den ehelichen Haushalt auf.

Wissenschaftliche Verdienste

Einmal trat Wilhelm aber doch aus dem Schatten: Als er 1837, inzwischen außerordentlicher Professor an der Universität Göttingen, mit Jacob den Protest der "Göttinger Sieben" gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover unterschrieb. Dieser Protest trieb die liberale Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Weg zur Revolution von 1848 voran.

Die Brüder Grimm wurden daraufhin des Amtes enthoben und später auch des Landes verwiesen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. rief die Brüder 1841 nach Berlin, wo die beiden Sprach- und Literaturwissenschaftler noch im selben Jahr Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurden.

Bis zu seinem Tod lehrte Wilhelm Grimm an der Berliner Universität und steuerte zum gemeinsamen "Deutschen Wörterbuch" den Buchstaben "D" bei. Er übersetzte "Altdänische Heldenlieder", edierte mit Jacob "Deutsche Sagen" und "Irische Elfenmärchen", das "Hildebrandlied" und "Der arme Heinrich". Sein wissenschaftliches Hauptwerk über die "Deutsche Heldensage" (1829) ist jedoch fast vergessen. Wilhelm Grimm wurde auf dem St. Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg beigesetzt. Ein Ehrengrab erinnert an ihn.

epd