Das Kanzleramt, die Spitze des Verteidigungsministeriums sowie mit der Koordination der Geheimdienste beauftragte Regierungsvertreter seien vor und nach dem Luftangriff bei Kundus am 4. September in eine damals vereinbarte neue Eskalationsstufe in Afghanistan einbezogen worden, berichtet die "Leipziger Volkszeitung". Dabei sei es auch um die gezielte Liquidierung der Taliban-Führungsstruktur gegangen. Im Einsatzführungskommando in Potsdam sowie bei Kleins Kameraden heiße es, dieser habe sich "ermutigt gefühlt", "kräftig durchzugreifen".
"Er wollte Menschen angreifen, nicht Fahrzeuge"
Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages soll die Kundus-Affäre durchleuchten. Er konstituiert sich am kommenden Mittwoch. Ebenso wie "Spiegel Online" berichtet auch die "Süddeutsche Zeitung" in ihrer Samstagsausgabe, der Luftschlag von Kundus habe nicht auf die beiden Tanklastzüge, sondern auf eine Gruppe von Taliban und deren Anführer gezielt.
ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal schrieb in seinem Untersuchungsbericht für die NATO über den Angriff laut "Süddeutscher Zeitung" (Samstag): "Er (Kundus-Kommandeur Georg Klein) hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge." Aus Kleins eigenem Bericht vom Tag nach dem Angriff zitiert der "Spiegel", er habe die "Tanklastwagen sowie an den Fahrzeugen befindliche INS (Insurgents - Aufständische) ... vernichten" wollen. Die Regierung hatte immer erklärt, die Tankwagen seien angegriffen worden, weil sie als rollende Bomben gegen die Bundeswehr hätten eingesetzt werden können.
Angriff offenbar mit Zustimmung des US-Militärs
McChrystal wies laut "Spiegel" auch auf die brisante Aussage eines afghanischen Übersetzers hin: Demnach teilte ein einheimischer Informant den Deutschen vor dem Angriffsbefehl mit, dass einer der beiden Fahrer der entführten Tankwagen noch lebe. In diesem Falle hätte Klein zumindest den Tod eines Unschuldigen wissentlich in Kauf genommen. Zudem schreibt McChrystal, dass die Mission hauptsächlich von jener geheimen Einheit Taskforce-47 "initiiert" worden sei, die Klein beriet.
Nach einem Bericht des Magazins "Focus" erfolgte der Angriff mit ausdrücklicher Zustimmung der US-Militärs. Dem Magazin zufolge holten die US-Piloten vor dem von Oberst Klein angeforderten Abwurf der Bomben eine endgültige Freigabe bei der US-Einsatzzentrale in Doha im Golfstaat Katar ein. Erst nach Rückfrage bei ihrer Kommandozentrale und der Freigabe klinkten sie die beiden GPS-gesteuerten GBU-38-Bomben aus, heißt es in dem Bericht.
Bei der Bombardierung der beiden von den Taliban gekaperten Tanklaster waren bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt worden.
Regierung: Nicht auf konkrete Einsätze Einfluss genommen
Regierungssprecher Ulrich Wilhelm betonte am Samstag, man habe nicht auf konkrete Einsätze Einfluss genommen. "Das Kanzleramt hat stets großen Wert darauf gelegt, dass die Einsätze der Bundeswehr immer im Rahmen des vom Bundestag erteilten Mandats erfolgen."
Die Opposition reagierte empört auf die Berichte. "Frau Merkel muss erklären, ob eine Strategie des gezielten Tötens Bestandteil der Afghanistan-Politik der Bundesregierung ist - und ob Kanzleramt, Bundeswehr und Nachrichtendienst diese neue Strategie gebilligt haben", forderten die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin. Der Verteidigungsexperte der Linksfraktion, Paul Schäfer, sagte: "Meines Erachtens sieht das Mandat eine solche Form gezielter Tötung nicht vor, auch das ISAF-Mandat nicht." Parteichef Lothar Bisky konstatierte, wenn die Vorwürfe gegen das Kanzleramt stimmten, "dann wurden Parlament und Öffentlichkeit bewusst getäuscht". Der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour sprach von einer "politischen Bombe".
Die SPD forderte von Guttenberg eine Regierungserklärung. Der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann will von ihm wissen, "wer zu welchem Zeitpunkt unterrichtet war und aus welchen Gründen der Generalinspekteur und Staatssekretär Wichert in Wirklichkeit entlassen wurden".
"Nicht in meine Verantwortungszeit gefallen"
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sagte nach seiner Rückkehr von einem Truppenbesuch in Kundus am Freitagabend auf Anfrage zu dem "LVZ"-Bericht: "Auch zu diesem Themenkomplex gilt: Vor meiner Zeit als Verteidigungsminister, nicht in meine Verantwortungszeit gefallen. Das ist Gegenstand des Untersuchungsausschusses. Ich glaube, das ist der richtig Weg."
Guttenberg hatte am Freitag in Kundus um Verständnis der Soldaten für den Untersuchungsausschuss zu dem Luftschlag geworben. Zugleich warnte er in Afghanistan vor einer Diskreditierung der Soldaten durch die Arbeit des Bundestagsgremiums. Dem Vernehmen nach soll der Minister nicht über die geplante Entschädigung für zivile Opfer gesprochen haben.